Eine Theaterarbeit im Kosovo
Die künstlerische Zusammenarbeit im Kosovo entstand aus Freundschaften. Alban Beqiraj arbeitete 2015, als ich ihn kennen lernte, im Wiener Kabinetttheater. Durch die Vermittlung von Julia Reichert, der Prinzipalin des Theaters, und der dort tätigen Schauspielerin Katarína Csányiová trafen wir uns nach den Vorstellungen oder auch außerhalb der Probenzeiten und tauschten uns über unsere unterschiedlichen Lebenserfahrungen aus. Alban erzählte mir von seiner Flucht als zwölfjähriger Junge 1998 aus dem Kosovo über Montenegro in die Schweiz, dass er nach dem Kosovo-Krieg in Prishtina bereits Theaterregie und Philosophie studiert hat und jetzt in Wien Theaterwissenschaft und weiterhin Philosophie studiere, und dass er im Kosovo ein eigenes Theater aufbauen möchte.
Meine einzige Balkan-Erfahrung war eine Theaterarbeit mit dem theatercombinat wien und dem Nationaltheater von Montenegro 2003 in Podgorica, wo wir an Heiner Müllers „Mauser“ und Marquis des Sades „120 Tage von Sodom“ in einer aufgelassenen Schwimmhalle gearbeitet haben. Meine Kenntnisse über den serbisch-kosovarischen Konflikt und den daraus folgenden Krieg 1998/1999 beschränkten sich also auf diese Theaterarbeit und auf Medienberichte.
Alban und seine Freundin Rajmonda Ahmetaj heirateten im August 2016 im Kosovo, genauer gesagt in einem kleinen Dorf namens Strellc, das zu Füßen der Verwunschenen Berge liegt, ein Gebirgsmassiv, das sich von Montenegro über den Kosovo bis nach Albanien erstreckt. Als Gast des Kabinetttheaters und des Hochzeitspaares fuhr ich mit dem gesamten Team per Bus 16 Stunden von Wien in die kosovarische Hauptstadt Prishtina, wo die Gruppe im Theater Dodona ein Gastspiel gab, das von der Österreichischen Botschaft Prishtina und dem BKA unterstützt wurde. Nach den zwei Vorstellungen fuhren wir mit Rajmonda und Alban weiter nach Gjakova, eine Stadt mit 40 000 Einwohnern im Südwesten des Kosovo,
die zu jugoslawischer Zeit als Textilzentrum bekannt war. Jetzt stehen die zahllosen Baumwoll- und Industriefabriken leer und verfallen. Durch Spenden wie zum Beispiel von Nicole Kidman oder Madeleine Albright konnte nach dem Krieg die Altstadt samt Bazar wieder aufgebaut werden. Dort trafen wir den Musikprofessor Behar Arllati, der am nächsten Tag mit seiner Band bei der Hochzeit von Rajmonda und Alban spielen sollte. Arllati, in Gjakova während der Bombardierung durch das US-Militär in einem serbischen Gefängnis sitzend, arbeitet seit Jahrzehnten an einer einzigartigen Musiksammlung. Er durchstöbert Archive und besucht Bauerndörfer und Berghirten, wo er alte Tonaufnahmen erwirbt.
Oder er lässt sich Lieder, die nur mündlich existieren, vorsingen, nimmt sie auf oder notiert sie. Arllati meint, dass es nur mehr eine Handvoll Hirten gäbe, welche die uralten Epen noch auswendig können und
sich singend auf der Gusla, einem traditionellen Streichinstrument, stundenlang begleiten. Auf meine Frage, wie lang das kürzeste Epos dauere, antwortete er: „Ungefähr zehn Stunden.“ Darauf ich: „Dann lasst uns doch über ein zehnstündiges Musiktheater-Projekt hier im Kosovo nachdenken.“
Am nächsten Tag fuhren wir weiter nach Strellc zur Hochzeitsfeier. Die Strecke beträgt lediglich 25 Kilometer und ist normalerweise in einer dreiviertel Stunde zu bewältigen. Nicht aber in der „Schatzi-Zeit“. So nennen die Kosovaren den Sommer von Mitte Juli bis Ende August, wenn die Diaspora aus Österreich, Deutschland und der Schweiz dort Urlaub macht und ihre Hochzeiten feiert. Dann staut sich alles auf den engen Straßen, und man ist zu Fuß schneller unterwegs. Vor dem neu gebauten
Haus der Familie Beqiraj endlich am frühen Nachmittag angekommen, ist bereits ein Großteil der Festgemeinschaft versammelt.
Riesige Trommeln werden in einem Atem beraubenden Takt geschlagen, der peitschende Rhythmus lädt trotz der enormen Hitze zum Tanzen ein, die uns fremd tönenden Schalmeien versetzen unsere achtköpfige Reisegruppe bereits beim Aussteigen in ein erwartungsvolles Delirium,
und aus dem nebenan liegenden Maisfeld wird zur Begrüßung eine
Maschinengewehr-Salve abgefeuert. Die Tradition gebietet es, dass wir uns in einer Reihe aufstellen, die älteste Person voran, um dann einzeln von den ebenfalls in einer Reihe stehenden Familienmitgliedern begrüßt und eingeladen zu werden.
Früher dauerten die Hochzeiten und Begräbnisse mehrere Tage lang, mittlerweile beschränken sie sich auf einen Tag. An diesem Nachmittag haben wir auch kurz die Gelegenheit, das nebenan stehende Haus der Familie Beqiraj zu besichtigen. Es ist eine alte Kulla. So nennt man auf dem Westbalkan die wehrhaften Wohntürme aus Stein, die aus zwei oder drei Stockwerken bestehen, mit engen Fenstern, die Schießscharten gleichen, wobei noch der umliegende Garten und die Stallungen mit einer Steinmauer vor dem feindlichen Außen geschützt werden. In diesen Kullas
konnten Familienangehörige, die von der Blutrache bedroht wurden, einen sicheren Aufenthaltsort finden. Im Erdgeschoss lebten die Tiere, im ersten Stock fand das Familienleben statt, und der zweite Stock war den Männern vorenthalten, mit einem besonderen Raum, der Oda, wo männliche Gäste empfangen und alle Entscheidungen über Ehen, Blutfehden und Politik getroffen wurden. Während des Rundganges durch die Kulla und den Garten erzählt uns Alban, dass er selbst bis zum Kosovo-Krieg in diesem Haus aufgewachsen sei, und dass zwischenzeitlich 35 Menschen hier gelebt hätten. Jetzt stehe es leer, und er würde diese Anlage langfristig gerne umbauen zu einem internationalen Kunstzentrum, das Proberäume, Schlafzimmer und eine Bibliothek beherberge. Und ja, man könne um
die Kulla herum auch einen interkonfessionellen Friedhof anlegen, das wäre auch ein wichtiges religiöses und politisches Zeichen für diesen jungen Staat. Nach der Hochzeitsfeier und einer anschließenden Reise nach Skopje, Sofia und Belgrad wieder in Wien angekommen, begann ich mich genauer mit der Geschichte des Kosovo auseinander zu setzen.
Alban schickte mir unentwegt Materialien zu einigen berühmten Albanienforschern, wie zum Beispiel zu Franz Baron Nopcsa, oder zu aktuellen Historikern wie Oliver Schmitt. Ein wichtiger Hinweis von ihm war auch das Buch „Behind Stone Walls“ von Berit Backer, einer Anthropologin aus Norwegen, in dem sie die Isolation und Unterwerfung der Frauen in der albanischen Gesellschaft und in der Kulla beschreibt. Umfragen zufolge hält die Hälfte der Frauen im Kosovo es heute noch in bestimmten Fällen für gerechtfertigt, von ihren Ehemännern geschlagen zu werden. Backer kam 1975 nach Isniq, einem Nachbardorf von Strellc, aus dem Albans Frau Rajmonda stammt. Berit Backer wurde 1993 unter noch heute ungeklärten Umständen von einem jungen Albaner ermordet. Neben den politischen Gräben und sprachlichen Minenfeldern in diesem Teil des Balkans entdeckte ich mit der Zeit den iso-polyphonen Gesang, der durch
die Abkapselung Albaniens unter der Herrschaft von Enver Hoxha gepflegt und tradiert wurde, und junge Musikgruppen wie zum Beispiel „Catch Pop String Strong“.
Ein noch unbekannter, fremder Raum tat sich mir auf, und ich hatte Lust, gemeinsam mit Alban, Rajmonda und Katarína dieses Land künstlerisch zu entdecken. Da Alban weiterhin im Kabinetttheater arbeitete, konnten wir uns immer wieder in Wien treffen und austauschen. Er bereitete für Dezember 2016 seine erste Inszenierung im Nationaltheater Kosovo vor, basierend auf einem Text, den Idlir Azizaj verfasst hat, ein albanischer Schriftsteller und Übersetzer, der in Paris lebt und bekannt wurde für seine Ulysses-Übersetzung von James Joyce ins Albanische. Gleichzeitig verfolgten wir die Idee eines zehnstündigen Musiktheater-Projektes in Gjakova. Dafür war es notwendig, immer wieder in den Kosovo zu reisen, um das Vorhaben zu kommunizieren, um interessierte KünstlerInnen zu treffen, und nicht zuletzt, um einen geeigneten Ort und Geldgeber für das Projekt zu finden.
Katarína und mir fiel auf, dass es eine Flugverbindung von Bratislava ins
südserbische Ni_ gibt. Von Ni_ fährt ein Bus in drei Stunden nach Prishtina. Das hatte auch den Vorteil, dass wir bei unserer Reise beide Seiten des politischen Konfliktes kennen lernen konnten. Wir verbrachten also immer zumindest eine Nacht in Ni_, bevor wir nach Prishtina bzw. nach Wien weiter reisten. Bei unserer ersten Fahrt gab es am Busbahnhof von Ni_ „offiziell“ noch kein Ticket nach Prishtina zu kaufen. Doch mit Geduld, einigen Gesprächen und Bus-Wechsel kamen wir an unser Ziel. Dabei half auch, dass Katarína als Slowakin sich in Serbien verständigen kann. Und da die Slowakei wie andere vier EU-Staaten die Unabhängigkeit des Kosovo
nicht anerkennt, war klar, dass es von Vorteil ist, wenn sie in Serbien die
Kommunikation übernimmt, und ich ab der kosovarischen Grenze und bei den kosovarischen Behörden die „Habsburger“-Trumpfkarte bediene, denn in jedem noch so kleinen Ort gibt es heute einen Habsburger-Platz. Mittlerweile verkehren täglich zwei Busse zwischen Ni_ und Gra_anica, der serbischen Enklave nahe Prishtina, und auch an der Grenze hat sich der Konflikt in den letzten Jahren spürbar entspannt, so dass man manchmal bereits nach einer zehnminütigen Grenzkontrolle die Weiterfahrt antreten kann.
Anfang 2017 meinte Alban zu mir, dass er die Möglichkeit habe, beim kosovarischen Kulturministerium für eine finanzielle Unterstützung einer Theaterproduktion anzusuchen, bei der ich als Ko-Regisseur mitwirken solle, was mir die Gelegenheit vor Ort bieten würde, in Kontakt mit der dortigen Kunstszene zu kommen. Da er bereits an einer Übersetzung von Heiner Müllers „Medeamaterial“ arbeitete, und da er ohnehin vorhatte, einen Band mit Müller-Übersetzungen auf Albanisch heraus zu bringen, schlug ich ihm „Quartett“ vor. Da ich es ablehnte, im Theater von Gjakova
das zehnstündige Musik-Theater-Festival abzuhalten, zeigte uns im Juni 2017 Behar Arllati auf einer organisierten Tour durch Gjakova unzählige leere Fabriken. Wir entschieden uns für die „elektromotori gorenje“. In dieser produzierte die slowenische Firma Gorenje bis zur Schließung in den 1990er Jahren durch Milo_evi_ alle Motoren ihrer Produktpalette für den gesamten jugoslawischen Raum und für Süditalien. Die Maschinen waren nicht nur alle noch vorhanden, sie waren auch einsatzbereit. Teilweise hingen die blauen Arbeitsmäntel noch an den Haken, und die Fabrik hatte
circa 20 unterschiedlich große Hallen und riesige Außenflächen, so dass es möglich erschien, mehrere Programmpunkte und mehrere Zeitabschnitte in der Geschichte des Westbalkans während dieser zehn Stunden gleichzeitig auftauchen und erklingen zu lassen, während die BesucherInnen durch die Hallen ziehen.
Ende Oktober 2017 begannen die Proben für „Quartett“ im Theater Dodona, das mit dem Nationaltheater und dem Theater Oda das dritte von drei Theatern in Prishtina ist. Eine Off-Szene, wie wir sie zum Beispiel aus den österreichischen Landes- oder Bezirkshauptstädten kennen, existiert im Kosovo nicht. Zwar suchen immer wieder SchauspielerInnen um Projekte beim Kulturministerium an, das meiste Geld geht aber an das Nationaltheater in Prishtina und an die Hauptbühnen in den verschiedenen Regionen (wie z.B. Gjakova oder Prizren). Vereinzelt werden Projektanträge für das Theater Dodona oder das Theater Oda vergeben, die Aufführungen müssen aber in diesen Theatern stattfinden. Außerhalb dieser unter
der offiziellen Kulturverwaltung stehenden Häuser wird kein Geld vergeben, was die Gründung von freien Gruppen erschwert. Durch die Universität Prishtina, an der Schauspiel und Regie gelehrt wird, und auch durch die Filmakademie drängen jedes Jahr mehr junge SchauspielerInnen auf den Markt, die kaum Betätigungsfeldervorfinden. Dennoch hält sich die Begeisterung in Grenzen, wenn ich in Gesprächen mit jungen Theaterleuten auf die Gründung einer freien Gruppe dränge, die doch eine dieser massenweise leer stehenden Fabriken oder Verwaltungsgebäude nützen
und dort „frei“ von herkömmlichen Theaterbauten und Vorstellungsweisen etwas ausprobieren könnte. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Knapp die Hälfte der Bevölkerung im Kosovo lebt in absoluter Armut, die
Jugendarbeitslosigkeit beträgt ca. 70%. Ein/e junge/r Schauspieler/in versucht also, möglichst viele kleinere Jobs zu machen, die sich über den ganzen Tag verteilen, während er/sie sich gleichzeitig um die Familie kümmern muss, wodurch für das gemeinsame Proben nur wenige enge Zeitfenster bleiben, und die sind bei jeder/manders verteilt. Eine Interessenvertretung für die am Theater Tätigen ist im Kosovo den meisten unbekannt und auch unvorstellbar. Der Paternalismus aus ottomanischer Zeit, aber auch der internationale der vergangenen 20 Jahre und die
Verweigerung der Reisemöglichkeit in den Schengen-Raum führen auch bei jungen Menschen zu der Einschätzung, Opfer einer fatalen politischen Entwicklung zu sein. Noch dazu, wenn die allgegenwärtige Korruption und die organisierte Kriminalität die staatliche Verwaltung und Politik täglich korrumpieren und rechtsfreie Räume hinterlassen, die Angst vor Obrigkeiten und vor Verantwortung produzieren. Das öffentliche Bildungssystem liegt am Boden, wer Geld hat, schickt die Kinder auf
Privatschulen. Es wird geschätzt, dass mehr als 35% aller Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren weder eine Bildungseinrichtung besuchen, noch einer Ausbildung oder Beschäftigung nachgehen. Und wenn man versucht, für die Gründung einer Gruppe bei privaten Wirtschaftsunternehmen ein Sponsoring zu lukrieren, so wird man meist gar nicht angehört, und wenn doch, mit Bier- und Getränkelieferungen abgespeist. Das Theater, wie es ist, interessiert kaum jemanden
im Kosovo. Auch uns wurde während der „Quartett“-Proben bald klar, dass man den Zwängen dieser schlecht organisierten kleinen Theaterhäuser kaum etwas entgegen setzen kann. Das Dodona wurde monatelang um ca. 60 000.- Euro saniert und hätte Ende September fertig sein sollen. Als ich Ende Oktober ankam, waren die Sanierungsarbeiten immer noch im Gange. Wir wurden jede Woche damit vertröstet, dass es nächste Woche eröffnet wird. Als ich Anfang Dezember wieder abfuhr, war es immer noch nicht fertig gestellt. Aber man konnte sehen, dass der alte, doppelt geschichtete und hervorragende Bühnenboden aus der Jugoslawien-Zeit jetzt
rausgerissen und durch grau angestrichene billige Spanplatten ersetzt wurde, die sofort splittern. So wurde bei der Renovierung mit fast allen Bühnenelementen verfahren. Von der Presse interessiert diese „Privatsanierung“ niemanden. Man lernt in dieser „Probenzeit“ auch, dass Handwerker im Kosovo prinzipiell Tage oder Wochen später als bestellt erscheinen. Die Premieren werden ungefähr eine Woche vor Ende der Probenzeit, von der niemand weiß, wie lange sie genau dauern wird,
festgelegt, und die Einladungen dazu meist auf Facebook zwei Tage vorher
ausgesendet, manchmal auch erst ein paar Stunden vor Beginn, der sich auch gern um eine halbe Stunde verzögert. Das hat den Vorteil, dass man, ähnlich wie im DDRTheater, monatelang ohne Zeitdruck probieren kann. Wenn man den Eindruck hat, man ist soweit, setzt man eben die Veröffentlichung an. Das ist im Kosovo auch deshalb möglich, weil niemand um Stück-Rechte ansucht – man spielt das gewünschte Stück eben. Da wir aber für „Quartett“ mit dem Henschel-Verlag einen Vertrag hatten, war es für uns bindend, bis spätestens Mitte Februar 2018 eine Veröffentlichung zu präsentieren, da ansonsten die Rechte wieder verfallen wären.
Dieses für unsere Freunde im Kosovo erstaunliche Prozedere empfand ich wiederum für unsere Produktion von Vorteil, da dadurch ein Datum feststand, an dem die SpielerInnen den dichten und fremden Text können mussten. Nach einer dritten, zehntägigen Probenphase gab es am 14. Februar 2018 die erste Aufführung von „Quartett“ auf Albanisch. Ein paar Monate später wurde der Text in der kosovarischen Literaturzeitschrift „Jeta e Re“ veröffentlicht. Alban und ich nützten die Probenzeit auch, um mit SchauspielerInnen Leseproben zu abzuhalten, Veranstaltungen zu besuchen und vor allem, um die Übersetzung zu präzisieren und fertig zu stellen. Für das Theater-Musik-Festival nahmen wir als Titel
eine Textpassage aus „Quartett“: Unter dem Pflug der Zeit. Und nachdem im
Spätherbst 2017 alle kosovarischen Regionalwahlen endlich gültig waren (es gabStichwahlen, danach Anfechtungen und neue Stimmauszählungen) und alle BürgermeisterInnen feststanden, fuhren wir nach Gjakova, um dem neuen Bürgermeister „Unter dem Pflug der Zeit“ in der elektromotori gorenje zu präsentieren. Er zeigte sich begeistert und meinte, er werde uns mit seinen Kontakten zum Kulturministerium und mit all seinen Privatsponsoren unterstützen.
Wir müssten aber noch bis Jänner alle Einreichungen erledigen – was wir sofort taten. Danach warteten wir monatelang auf eine Antwort seinerseits. Wenn Alban beim Bürgermeister anrief oder sogar nach Gjakova fuhr, um persönlich mit jemandem aus seinem Büro zu sprechen, so wusste diese Person über nichts Bescheid, und er wurde wiederum auf nächste Woche vertröstet. Eine große Hilfe schon während der „Quartett“-Arbeit und vor allem bei der Realisierung der ersten Ausgabe unseres Festivals am 7. Juli 2018 war die Österreichische Botschaft Prishtina. Frau Michlits, Frau Hamza und Frau Fischer unterstützten uns zusammen mit Botschafter Pfandler nicht nur finanziell, sondern bei allen erdenklichen Hürden. Sie machten uns ihrerseits Mut und bahnten uns auch neue Wege. So wiesen sie uns auf den von der EU im Kosovo geförderten Projekttopf „culture for change“ hin, den quendra multimedia und das Goethe-Institut verwalten. Dieser Topf, der auf drei Jahre angesetzt ist, unterstützt kulturelle
Aktivitäten und Bildungseinrichtungen wie z.B. Bibliotheken in ländlichen Regionen. Die Jury wählt ca. 40 Projekte aus fast 200 Einreichungen pro Jahr aus, bei einem Gesamtetat von jährlich 230 000.- Euro. Zumindest 10% der ausgewählten Projekte gehen im Sinne der ethnischen Vielfalt Kosovos an serbische Projekteinreichungen. Der kosovarische Dramatiker und Direktor von qendra multimedia, Jeton Neziraj, der diesen Topf auch initiiert hat, teilte uns in einem Gespräch mit, dass für „culture for change“ unser Projekt in jeder Region realisiert werden könne, außer in der Hauptstadt Prishtina. Wir müssen es also nicht, wie bei unserer Bewerbung
angegeben, in Gjakova abhalten.
Nachdem wir nach unzähligen weiteren Anfragen Ende Mai 2018 vom Bürgermeister von Gjakova endlich mitgeteilt bekommen haben, dass wir bei einem Jugendtopf für unser Projekt nun neuerlich anzusuchen hätten, entschlossen wir uns, aufgrund der zeitlich nicht mehr möglichen Realisierbarkeit des Projektes und der unkooperativen Haltung der dortigen Politik das Theater-Musik-Projekt zu modifizieren. Wir entsannen uns auf die alte Kulla der Familie Beqiraj, die uns das Haus samt Garten
und Stallung großzügigerweise für unsere erste Ausgabe des Festivals zur
Verfügung stellte, und nahmen für den ersten Schritt des Umbaus in ein
internationales Kunstzentrum einen Satz von Heiner Müller als Motto: Damit etwas kommt, muss etwas gehen. Wir entschlossen uns also, am 7. Juli 2018 die alte Kulla teilweise zu zerstören. Von 18 Uhr bis 24 Uhr sollten Wände eingerissen und um Mitternacht das Dach abgedeckt werden, um den Sternenhimmel zu sehen. Musikprofessor Behar Arllati kam mit sechs Studierenden der Musikschule Gjakova angereist, Idlir Azizaj brachte
vergessene und neue albanische Texte mit, dazu Übersetzungen von Beckett, Lukrez oder Yates, zehn kosovarische SchauspielerInnen und fünf aus Deutschland, Slowakei, Italien und Österreich reisten in das 800 EinwohnerInnen-Dorf Strellc. Weiters kamen sieben bildende KünstlerInnen aus Österreich, Kosovo und Albanien, und auch Kulla-Bauarbeiter, kosovarische VolkstänzerInnen und Dokumentarfilmer
versammelten sich vor Ort. Gesamt waren an diesem Abend 40 Personen aktiv beteiligt, die beginnend mit dem Gesang von Cornelius Cardews „The Great Learning“, über Videoprojektionen, Performances, Zertrümmerungen der Kulla, bis zum Aufbau von Skulpturen unterschiedliche Aktionen setzten. Selbst die DorfbewohnerInnen brachten sich ein, in dem sie uns mit Essen und Trinken, Umbau- und Aufräumarbeiten unterstützten.
In dieses abgeschiedene Dorf, das für Gäste aus Prishtina kaum zu finden ist, kamen knapp 200 BesucherInnen, und zum Abschluss, als wir in der sechsten Stunde die ersten Dachziegel abdeckten, sangen sie mit uns gemeinsam ein altes albanisches Liebeslied. Zur Zeit findet gerade die Aufarbeitung der unterschiedlichen Erfahrungen aller an diesem Projekt Beteiligten statt. Alban und Rajmonda kamen Anfang September 2018 nach Innsbruck zum VORBRENNER ins Freie Theater und berichteten unter dem Titel „Medea oder Die Kunst des Exils“ über künstlerische Produktionsbedingungen im Kosovo. Dabei wurde auch eine filmische
Dokumentation mit Ausschnitten aus den Proben und der Aufführung gezeigt.
Nächsten Sommer soll die zweite Ausgabe des Festivals erfolgen, die in Kooperation unter anderem mit dem Architekturfestival Prishtina, österreichischen Technik- Universitäten und internationalen KünstlerInnen stattfinden soll. Ein erster Schritt ist gesetzt.
Andreas Pronegg
GIFT (IG Theater) September 2018
Für Informationen und Anfragen:
andreas.pronegg@stralli.org
Andreas Pronegg (Aut), geb.1969. Neben Landschaftsinstallationen und
Inszenierungen von Ortschaften unter Beteiligung der EinwohnerInnen erarbeitet er seine theatralen Entwürfe in mehrjährigen Arbeitsprozessen und in Auseinandersetzung mit den jeweiligen Architekturen und Landschaften.
Mitbegründer der Theaterformationen: Pandora, Das Labor, VORBRENNER
(Innsbruck); theatercombinat wien, KJDT und transit (Wien); stralli (Kosovo).