SCHUT – SATZ
MAY – KAFKA – MÜLLER
Eine Textcollage

PROLOG

Wohin reiten wir?

Nach Rugova zum Schut.

Unser Ritt ging jetzt voraussichtlich seinem Ende zu. Aber es stand zu erwarten, dass der letzte Teil der schwierigste sein würde. Wir dachten nicht daran, die Zeit zu messen.

Wir kennen den Weg und im Übrigen sind wir Skipetaren und können uns auf unsere Augen und unsere Pferde verlassen.

Wir brauchen keinen Plan. Geschichte ereignet sich anders als im Plan.

Niemand dachte an seine Arbeit, heute war ein Tag, wie es in Rugova noch niemals einen gegeben hatte.

I. DIE VERBLENDUNG

Es hatte ganz das Aussehen, als ob er mit der Klinge sich mir entgegenstürzen wollte. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber ihn erblicken und erkennen war eins. Schon mehrere, die ihn beleidigt hatten, öffneten den Mund nicht wieder. Ein Toter kann nicht mehr reden. Also ein Duell! Ein schauriges zwar, aber doch ein – Duell.

Eine kleine Bewegung meiner Daumen, ein kräftiger Druck und er stieß ein Geheul aus wie ein verwundeter Panther und ließ die Hände von meinem Hals los, denn ich hatte ihm – beide Augen ausgedrückt.

Ich hatte ihn nur geblendet. Als er hilflos vor mir stand, konnte ich es nicht über mich bringen, ihn zu töten. Er mag sein dunkles Leben langsam zu Grabe schleppen. Er hat das Licht seiner Augen verloren und wird nun keinem Menschen mehr schaden können. Das Leben wird für ihn schlimmer sein als der Tod.

Deine Lüge ist so groß, dass sie mir in den Ohren brennt.

Einschub 1:

Lajos war König in Theben. Ihm sagte der Gott aus dem Mund der

Priester, sein Sohn werde gehen über ihn. Lajos, unwillig

Zu bezahlen den Preis der Geburt, die kostet das Leben

Riß von den Brüsten der Mutter das Neue, durchbohrte die Zehen ihm

Sorgsam, daß es nicht über ihn geh, und vernähte die dreifach

Gab es, daß der auf dem Tisch der Gebirge den Vögeln es ausleg

Einem Diener, dieses mein Fleisch wird mich nicht überwachsen

Und verbreitete so den Fuß, der ihn austrat, durch Vorsicht:

Dem geflügelten Hunger das Kind nicht gönnte der Diener

Gab in andere Hände zu retten in anderes Land es

Dort das hoch Geborene wuchs auf geschwollenen Füßen

Keiner hat meinen Gang, sein Makel sein Name, auf seinen

Füßen und andern seinen Gang ging das Schicksal, aufhaltsam

Jeder Schritt, unaufhaltsam der nächste, ein Schritt ging den andern.

Seht das Gedicht von Ödipus, Lajos Sohn aus Jokaste

Unbekannt mit sich selber, in Theben Tyrann durch Verdienst: er

Löste, weil Flucht vom verkrüppelten Fuß ihm versagt war, das Rätsel

Aufgestellt von der dreimal geborenen Sphinx über Theben

Gab dem Stein zu essen das Menschen essende Dreitier

Und der Mensch war die Lösung. Jahrlang in glücklicher Stadt drauf

Pflügte das Bett, in dem er gepflanzt war, der Glückbringer glücklich.

Länger als Glück ist Zeit, und länger als Unglück: im zehnten

Jahr aus Ungekanntem die Pest fiel über die Stadt her

Solang glücklich. Leiber zerbrach sie und andere Ordnung.

Und im Ring der Beherrschten, das neue Rätsel geschultert

Auf zu großem Fuß stand, umschrien vom Sterben der Stadt, der

Rätsellöser, warf seine Fragen ins Dunkel wie Netze:

Lügt der Bote, sein Ohr, zu den Priestern geschickt, Mund der Götter?

Sagt der Blinde die Wahrheit, der mit zehn Fingern auf ihn weist?

Aus dem Dunkel die Netze schnellen zurück, in den Maschen

Auf der eigenen Spur vom eigenen Schritt überholt: er.

Und sein Grund ist sein Gipfel: er hat die Zeit überrundet

In den Zirkel genommen, ich und kein Ende, sich selber.

In den Augenhöhlen begräbt er die Welt. Stand ein Baum hier?

Lebt Fleisch außer ihm? Keines, es gibt keine Bäume, mit Stimmen

Redet sein Ohr auf ihn ein, der Boden ist sein Gedanke

Schlamm oder Stein, den sein Fuß denkt, aus den Händen ihm manchmal

Wächst eine Wand, die Welt eine Warze, oder es pflanzt sein

Finger ihn fort im Verkehr mit der Luft, bis er auslöscht das Abbild

Mit der Hand. So lebt er, sein Grab, und kaut seine Toten.

Seht sein Beispiel, der aus blutigen Startlöchern aufbricht

In der Freiheit des Menschen zwischen den Zähnen des Menschen

Auf zu wenigen Füßen, mit Händen zu wenig den Raum greift.

II. DER WALD

Reite eine Viertelstunde. Dann kommst du in ein großes, rundes Tal, das „Tal der Trümmer“ genannt wird.

Nachdem wir eine Viertelstunde lang geritten waren, öffnete sich die Schlucht auf ein rundes, weites Tal, bei dessen Anblick ich unwillkürlich den Rappen anhielt. Es hatte die Gestalt einer tiefen Schüssel, deren Boden einen Durchmesser von fast einer Stunde haben konnte. Aber wie sah es in dieser Schüssel aus!

Die Ränder stiegen rundum felsig und ziemlich steil empor. Da, wo eine Vegetation hatte Wurzeln fassen können, standen mehrhundertjährige Nadelbäume, mit deren Dunkel das lebhafte Grün riesiger Laubhölzer kontrastierte. Nach Süden und nach Westen schien das Tal einen ziemlich breiten Ausgang zu haben. Die Sohle war mit Felsentrümmern fast ganz bedeckt, Trümmer von der Größe eines mehrstöckigen Palastes bis zum faustgroßen Stein herab. Über diesen Felsen breitete sich ein schimmernder Überzug von Weinreben, Efeu und sonstigem Gerank und zwischen ihnen hatte üppiges Gebüsch jeden Raum so sehr in Besitz genommen, dass ein Hindurchkommen gar nicht denkbar zu sein schien.

Dieser Wald war mit keinem der genannten Urwälder zu vergleichen. Einen freien Ausblick gab es nicht. Der dunkle Wald hatte uns umfangen, er war fast als Urwald zu betrachten, aber was für ein Urwald!

Einschub 2:

Lange glaubte er noch den Wald zu durchschreiten, in dem betäubend warmen Wind, der von allen Seiten zu wehen schien und die Bäume wie Schlangen bewegte, in der immer gleichen Dämmerung der kaum sichtbaren Blutspur auf dem gleichmäßig schwankenden Boden nach, allein in die Schlacht mit dem Tier. In den ersten Tagen und Nächten, oder waren es nur Stunden, wie konnte er die Zeit messen ohne Himmel, fragte er sich noch manchmal, was unter dem Boden sein mochte, der unter seinen Schritten Wellen schlug so dass er zu atmen schien, wie dünn die Haut über dem unbekannten Unten und wie lange sie ihn heraushalten würde aus den Eingeweiden der Welt. Wenn er vorsichtiger auftrat, schien es ihm, als ob der Boden, von dem er geglaubt hatte, dass er seinem Gewicht nachgäbe, seinem Fuß entgegenkam, ihn sogar, mit einer saugenden Bewegung, anzog. Auch hatte er das deutliche Gefühl, dass seine Füße schwerer wurden. Er zählte die Möglichkeiten, 1) Seine Füße wurden schwerer und der Boden saugte seine Füße an. 2) Er fühlte seine Füße schwerer werden, weil der Boden sie ansaugte. 3) Er hatte den Eindruck, dass der Boden seine Füße ansaugte, weil sie schwerer wurden. Die Fragen beschäftigten ihn eine Zeit (Jahre Stunden Minuten) lang. Er fand die Antwort in dem zunehmenden Schwindelgefühl, das der konzentrisch wehende Wind ihm verursachte: Seine Füße wurden nicht schwerer, der Boden saugte seine Füße nicht an. Das eine wie das andere war eine Sinnestäuschung, durch seinen fallenden Blutdruck bedingt. Das beruhigte ihn und er ging schneller. Oder glaubte er nur schneller zu gehn. Als der Wind zunahm, wurde er häufiger an Gesicht Hals Händen von Bäumen und Ästen gestreift. Die Berührung war zunächst eher angenehm, ein Streicheln oder als prüften sie, wenn auch oberflächlich und ohne besonderes Interesse, die Beschaffenheit seiner Haut. Dann schien der Wald dichter zu wachsen, die Art der Berührung änderte sich, aus dem Streicheln wurde ein Abmessen. Wie beim Schneider, dachte er, als die Aste seinen Kopf umspannten, dann den Hals, die Brust, die Taille usw., sogar an seinem Schritt schien der Wald interessiert zu sein, bis sie ihn von Kopf bis Fuß Maß genommen hatten. Das Automatische des Ablaufs irritierte ihn. Wer oder was lenkte die Bewegungen dieser Bäume, Äste oder was immer da an seiner Hutnummer Kragenweite Schuhgröße interessiert war. Konnte dieser Wald, der keinem der Wälder glich, die er gekannt, »durchschritten« hatte, überhaupt noch ein Wald genannt werden. Vielleicht war er selber schon zu lange unterwegs, eine Erdzeit zu lange, und Wälder überhaupt waren nur mehr was dieser Wald war. Vielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus und alle andern Merkmale waren schon lange zufällig und auswechselbar geworden, auch das Tier, das zu schlachten er diese vorläufig noch Wald benannte Gegebenheit durchschritt, das zu tötende Monstrum, das die Zeit in ein Exkrement im Raum verwandelt hatte, war nur noch die Benennung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch. Nur er, der Unbenannte, war sich selber gleichgeblieben auf seinem langen schweißtreibenden Gang in die Schlacht. Oder war auch, was auf seinen Beinen über den zunehmend schneller tanzenden Boden ging, schon ein andrer als er. Er dachte noch darüber nach, als der Wald ihn wieder in den Griff nahm. Die Gegebenheit studierte sein Skelett, Zahl, Stärke, Anordnung, Funktion der Knochen, die Verbindung der Gelenke. Die Operation war schmerzhaft. Er hatte Mühe, nicht zu schreien. Er warf sich nach vorn in einen schnellen Spurt aus der Umklammerung. Er wusste, nie war er schneller gelaufen. Er kam keinen Schritt weit, der Wald hielt das Tempo, er blieb in der Klammer, die sich jetzt um ihn zusammenzog und seine Eingeweide aufeinanderpreßte, seine Knochen aneinanderrieb, wie lange konnte er den Druck aushalten, und begriff, in der aufsteigenden Panik: der Wald war das Tier, lange schon war der Wald, den zu durchschreiten er geglaubt hatte, das Tier gewesen, das ihn trug im Tempo seiner Schritte, die Bodenwellen seine Atemzüge und der Wind sein Atem, die Spur, der er gefolgt war, sein eigenes Blut, von dem der Wald, der das Tier war, seit wann, wieviel Blut hat ein Mensch, seine Proben nahm; und dass er es immer gewusst hatte, nur nicht mit Namen. Etwas wie ein Blitz ohne Anfang und Ende beschrieb mit seinen Blutbahnen und Nervensträngen einen weißglühenden Stromkreis. Er hörte sich lachen, als der Schmerz die Kontrolle seiner Körperfunktionen übernahm. Es klang wie Erleichterung: kein Gedanke mehr, das war die Schlacht.

Karl May:

Nur die größte Kaltblütigkeit konnte mich retten. Ich durfte meine Kraft nicht ausgeben; ich musste mich darauf beschränken, die gegen mich gerichteten Hiebe vorsichtig zu parieren, um dann jeden sich mir bietenden Vorteil blitzschnell auszunützen. Was man in solchen Augenblicken denkt und fühlt, das weiß man später nicht mehr.

Einschub 2 (Fortsetzung):

Sich den Bewegungen des Feindes anpassen. Ihnen ausweichen. Ihnen zuvorkommen. Ihnen begegnen. Sich anpassen und nicht anpassen. Sich durch Nichtanpassen anpassen. Angreifend ausweichen. Ausweichend angreifen. Dem ersten Schlag Griff Stoß Stich zuvorkommen und dem zweiten ausweichen. Umgekehrt. Die Reihenfolge ändern und nicht ändern. Dem Angriff begegnen mit gleicher und (oder) andrer Bewegung. Geduld des Messers und Gewalt der Beile. Er hatte seine Hände nie gezählt. Er brauchte sie auch jetzt nicht zu zählen. Überall wo immer wenn er sie brauchte, verrichteten sie seine Arbeit, Fäuste bei Bedarf, die Finger einzeln verwendbar, die Nägel gesondert, die Kanten aus dem Ellbogen. Seine Füße hielten den im Aufstand gegen die Gravitation zunehmend schneller rotierenden Boden fest, die Personalunion von Feind und Schlachtfeld, den Schoß der ihn behalten wollte. Die alte Gleichung. Jeder Schoß, in den er irgendwie geraten war, wollte irgendwann sein Grab sein. Und das alte Lied. ACH BLEIB BEI MIR UND GEH NICHT FORT AN MEINEM HERZEN IST DER SCHÖNSTE ORT. Skandiert vom Knacken seiner Halswirbel im mütterlichen Würgegriff. TOD DEN MÜTTERN. Seine Zähne erinnerten sich an die Zeit vor dem Messer. Im Gewirr der Fangarme, die von rotierenden Messern und Beilen nicht, der rotierenden Messer und Beile, die von Fangarmen nicht, der Messer Beile Fangarme, die von explodierenden Minengürteln Bombenteppichen Leuchtreklamen Bakterienkulturen nicht, der Messer Beile Fangarme Minengürtel Bombenteppiche Leuchtreklamen Bakterienkulturen, die von seinen eigenen Händen Füßen Zähnen nicht zu unterscheiden waren in dem vorläufig Schlacht benannten Zeitraum aus Blut Gallert Fleisch, so dass für Schläge gegen die Eigensubstanz, die ihm gelegentlich unterliefen, der Schmerz beziehungsweise die plötzliche Steigerung der pausenlosen Schmerzen in das nicht mehr Wahrnehmbare sein einziges Barometer war, in dauernder Vernichtung immer neu auf seine kleinsten Bauteile zurückgeführt, sich immer neu zusammensetzend aus seinen Trümmern in dauerndem Wiederaufbau, manchmal setzte er sich falsch zusammen, linke Hand an rechten Arm, Hüftknochen an Oberarmknochen, in der Eile oder aus Zerstreutheit oder verwirrt von den Stimmen, die ihm ins Ohr sangen, Chöre von Stimmen BLEIB IM RAHMEN LASS DAMPF AB GIB AUF oder weil es ihm langweilig war, immer die gleiche Hand am gleichen Arm immerwachsende Fangarme Schrumpfköpfe Stehkragen zu kappen, die Stümpfe zum Stehen bringen, Säulen aus Blut; manchmal verzögerte er seinen Wiederaufbau, gierig wartend auf die gänzliche Vernichtung mit Hoffnung auf das Nichts, die unendliche Pause, oder aus Angst vor dem Sieg, der nur durch die gänzliche Vernichtung des Tieres erkämpft werden konnte, das sein Aufenthalt war, außer dem vielleicht das Nichts schon auf ihn wartete oder auf niemand; in dem weißen Schweigen, das den Beginn der Endrunde ankündigte, lernte er den immer andern Bauplan der Maschine lesen, die er war aufhörte zu sein anders wieder war mit jedem Blick Griff Schritt, und dass er ihn dachte änderte schrieb mit der Handschrift seiner Arbeiten und Tode.

III. DIE VERWANDLUNG

Die Blicke sah der Schut nicht, denn er hielt die Augen geschlossen, und die Worte beachtete er nicht.

Wie mochte es ihm zu Mute sein! Dieser Mensch zuckte mit keiner Miene, nicht mit den Spitzen des Schnurrbarts. Er befolgte das Verhalten eines Käfers, der sich in der Nähe seiner Feinde tot stellt. Beim Käfer geschieht dies aus Todesangst, beim Menschen aber ist jedenfalls die Scham eine der Ursachen und dies ließ mich von dem Schut nicht mehr gar so schlecht denken wie vorher. Freilich war es nicht das richtige Scham- und Ehrgefühl, das ihm die Augen schloss.

Ein Teufel kann keine Scham empfinden. Er hat sich hier bei uns eingeschlichen und uns während langer Jahre getäuscht. Du bist es, der ihm die Maske abgerissen hat, du sollst nun auch bestimmen, was mit ihm zu geschehen hat.

Einschub 3:

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich

in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem

panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen

gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen

Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten

konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen

Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.

»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum. Gregors Blick richtete sich dann zum Fenster, und das trübe Wetter – man hörte Regentropfen auf das Fensterblech aufschlagen – machte ihn ganz melancholisch. »Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße«, dachte er, aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Mit welcher Kraft er sich auch auf die rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloss die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann. Er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehten ihn Kälteschauer.

Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück. »Himmlischer Vater!«, dachte er. Dass die Veränderung der Stimme nichts anderes war, als der Vorbote einer tüchtigen Verkühlung, einer Berufskrankheit der Reisenden, daran zweifelte er nicht im Geringsten. Die Decke abzuwerfen war ganz einfach; er brauchte sich nur ein wenig

aufzublasen und sie fiel von selbst. Aber weiterhin wurde es schwierig, besonders

weil er so ungemein breit war. Er hätte Arme und Hände gebraucht, um sich

aufzurichten; statt dessen aber hatte er nur die vielen Beinchen, die

ununterbrochen in der verschiedensten Bewegung waren und die er überdies nicht

beherrschen konnte. Wollte er eines einmal einknicken, so war es das erste, dass

es sich streckte; und gelang es ihm endlich, mit diesem Bein das auszuführen, was

er wollte, so arbeiteten inzwischen alle anderen, wie freigelassen, in höchster,

schmerzlicher Aufregung. »Nur sich nicht im Bett unnütz aufhalten«, sagte sich

Gregor. Zuerst wollte er mit dem unteren Teil seines Körpers aus dem Bett

hinauskommen, aber dieser untere Teil, den er übrigens noch nicht gesehen hatte

und von dem er sich auch keine rechte Vorstellung machen konnte, erwies sich

als zu schwer beweglich; es ging so langsam; und als er schließlich, fast wild

geworden, mit gesammelter Kraft, ohne Rücksicht sich vorwärts stieß, hatte er die

Richtung falsch gewählt, schlug an den unteren Bettpfosten heftig an, und der

brennende Schmerz, den er empfand, belehrte ihn, dass gerade der untere Teil

seines Körpers augenblicklich vielleicht der empfindlichste war. Er versuchte es daher, zuerst den Oberkörper aus dem Bett zu bekommen, und drehte vorsichtig den Kopf dem Bettrand zu. Dies gelang auch leicht, und trotz ihrer Breite und Schwere folgte schließlich die Körpermasse langsam der Wendung des Kopfes. Aber als er den Kopf endlich außerhalb des Bettes in der freien Luft hielt, bekam er Angst, weiter auf diese Weise vorzurücken, denn wenn er sich schließlich so fallen ließ, musste geradezu ein Wunder geschehen, wenn der Kopf nicht verletzt werden sollte. Und die Besinnung durfte er gerade jetzt um keinen Preis verlieren; lieber wollte er im Bett bleiben.

Aber als er wieder nach gleicher Mühe aufseufzend so dalag wie früher, und

wieder seine Beinchen womöglich noch ärger gegeneinander kämpfen sah und keine

Möglichkeit fand, in diese Willkür Ruhe und Ordnung zu bringen, sagte er sich

wieder, dass er unmöglich im Bett bleiben könne und dass es das Vernünftigste sei, alles zu opfern, wenn auch nur die kleinste Hoffnung bestünde, sich dadurch vom Bett zu befreien.

Und er machte sich nun daran, den Körper in seiner ganzen Länge

vollständig gleichmäßig aus dem Bett hinauszuschaukeln. Wenn er sich auf diese

Weise aus dem Bett fallen ließ, blieb der Kopf, den er beim Fall scharf heben

wollte, voraussichtlich unverletzt. Der Rücken schien hart zu sein; dem würde wohl

bei dem Fall auf den Teppich nichts geschehen. Als Gregor schon zur Hälfte aus dem Bette ragte – die neue Methode war mehr ein Spiel als eine Anstrengung, er brauchte immer nur ruckweise zu schaukeln – , fiel ihm ein, wie einfach alles wäre, wenn man ihm zu Hilfe käme. Nun, ganz abgesehen davon, dass die Türen versperrt waren, hätte er wirklich um Hilfe rufen sollen? Mehr infolge der Erregung, in welche Gregor durch diese Überlegung versetzt wurde, als infolge eines richtigen Entschlusses, schwang er sich mit aller Macht aus dem Bett. Es gab einen lauten Schlag, aber ein eigentlicher Krach war es nicht. Ein wenig wurde der Fall durch den Teppich abgeschwächt, auch war der Rücken elastischer, als Gregor gedacht hatte, daher kam der nicht gar so auffallende dumpfe Klang. Nur den Kopf hatte er nicht vorsichtig genug gehalten und ihn angeschlagen; er drehte ihn und rieb ihn an dem Teppich vor Ärger und Schmerz.

Zuerst glitt er nun einige Male von dem glatten Kasten ab, aber endlich gab er

sich einen letzten Schwung und stand aufrecht da; auf die Schmerzen im

Unterleib achtete er gar nicht mehr, so sehr sie auch brannten. Nun ließ er sich

gegen die Rückenlehne eines nahen Stuhles fallen, an deren Rändern er sich mit

seinen Beinchen festhielt. Gregor war viel ruhiger geworden. Man verstand zwar seine Worte nicht mehr, trotzdem sie ihm genug klar, klarer als früher, vorgekommen waren, vielleicht infolge der Gewöhnung des Ohres. Er schob sich langsam mit dem Sessel zur Tür hin, ließ ihn dort los, warf sich gegen die Tür, hielt sich an ihr aufrecht – die Ballen seiner Beinchen hatten ein wenig Klebstoff – und ruhte sich dort einen Augenblick lang von der Anstrengung aus. Dann aber machte er sich daran, mit dem Mund den Schlüssel im Schloss umzudrehen. Es schien leider, dass er keine eigentlichen Zähne hatte, – womit sollte er gleich den Schlüssel fassen? – aber dafür waren die Kiefer freilich sehr stark; mit ihrer Hilfe brachte er auch wirklich den Schlüssel in Bewegung und achtete nicht darauf, dass er sich zweifellos irgendeinen Schaden zufügte, denn eine braune Flüssigkeit kam ihm aus dem Mund, floss über den Schlüssel und tropfte auf den Boden. Je nach dem Fortschreiten der Drehung des Schlüssels umtanzte er das Schloss; hielt sich jetzt nur noch mit dem Munde aufrecht, und je nach Bedarf hing er sich an den Schlüssel oder drückte ihn dann wieder nieder mit der ganzen Last seines Körpers. Der hellere Klang des endlich zurückschnappenden Schlosses erweckte Gregor förmlich. Aufatmend sagte er sich: »Ich habe also den Schlosser nicht gebraucht«, und legte den Kopf auf die Klinke, um die Türe gänzlich zu öffnen.

Und ohne daran zu denken, dass er seine gegenwärtigen Fähigkeiten, sich zu

bewegen, noch gar nicht kannte, ohne auch daran zu denken, dass seine Rede

möglicher, ja wahrscheinlicher Weise wieder nicht verstanden worden war, verließ er

den Türflügel; schob sich durch die Öffnung, fiel aber sofort, nach einem Halt suchend, mit einem kleinen Schrei auf seine vielen Beinchen nieder. Kaum war das geschehen, fühlte er zum ersten Mal an diesem Morgen ein körperliches Wohlbehagen; die Beinchen hatten festen Boden unter sich; sie gehorchten vollkommen, wie er zu seiner Freude merkte; strebten sogar darnach, ihn fort zu tragen, wohin er wollte.

Gregor hatte aber noch gar keine Übung im Rückwärtsgehen, es ging wirklich sehr langsam; und so begann er, sich nach Möglichkeit rasch, in Wirklichkeit aber doch nur sehr langsam umzudrehen. Als er endlich glücklich mit dem Kopf vor der Türöffnung war, zeigte es sich, dass sein Körper zu breit war, um ohne weiteres durchzukommen. Gregor drängte sich – geschehe was wolle – in die Tür. Die eine Seite seines Körpers hob sich, er lag schief in der Türöffnung, seine eine Flanke war ganz wund gerieben, an der weißen Tür blieben hässliche Flecken, bald steckte er fest und hätte sich allein nicht mehr rühren können, die Beinchen auf der einen Seite hingen zitternd oben in der Luft, die auf der anderen waren schmerzhaft zu Boden gedrückt – da erhielt er von hinten einen jetzt wahrhaftig erlösenden starken Stoß, und er flog, heftig blutend, weit in sein Zimmer hinein. Die Tür wurde zugeschlagen, dann war es endlich still. Erst in der Abenddämmerung erwachte Gregor aus seinem schweren ohnmachtsähnlichen Schlaf.

Ich hatte einen Traum Es war ein Albtraum

Ich wachte auf und alles war in Ordnung.

IV. SIEGER UND MÖRDER

Ich bin der einschlagende Blitz.

Wer sich in die Geheimnisse des Schut eindrängt, der ist verloren.

Du hast den Teufel!

Und du fährst zum Teufel!

Deine Rolle als Schut ist in diesem Augenblick ausgespielt!

„Allah! Allah! Das soll ich hören und dulden! Ich soll ein Räuber und Mörder sein! Frage die Leute, die deine Lügen hören! Sie werden dir sagen, wer ich bin. Und wenn du fortfährst, mich in einer so frechen Weise zu beschuldigen, so werden sie das nicht dulden, sondern mich beschützen. Nicht wahr, das werdet ihr, ihr Männer und Einwohner von Rugova? Könnt ihr ruhig zusehen, dass ein Fremdling, ein Christ, es wagt, mich, der ich der Wohltäter so vieler bin, in dieser Weise zu beschuldigen?“

„Nein, nein!“, riefen mehrere Stimmen. „Fort, weg mit diesem Giaur! Er soll kein Wort mehr sagen dürfen!“

„Ist es Schimpf, ein Christ zu sein? Wohnen nicht gerade hier in Rugova Bekenner des Islam und der Bibel friedlich beisammen? Sehe ich nicht Leute hier stehen, die den Rosenkranz umhängen haben, die also Christen sind? An diese Leute wende ich mich, wenn Kara Nirwan sich auf die Mohammedaner stützt. Was ich ihm vorgeworfen habe, ist alles wahr, ich werde es beweisen. Der Perser ist der Schut, verstanden – der Schut! Auch das kann ich euch beweisen, wenn ihr es ruhig anhören wollt.“

Da donnerte mich der Pferdehändler an:

„Schweig! Sonst schieße ich dich nieder wie einen Hund, den man nur durch die Kugel von seiner Räude befreien kann!“

Ich hätte ihn am liebsten niedergeschlagen, aber die Stimmung war, wie ich deutlich sah, gegen mich.

Sie bringen ihn!“, rief eine Stimme aus dem einen Haufen. „Kara Nirwan ist unschuldig! Gebt ihm die Freiheit!“

„Nein, nein, er ist ein Mörder!“, ertönte es von der anderen Seite. „Er muss sterben, sofort, unbedingt!“

Einschub 4:

Zwischen der Stadt Rom und der Stadt Alba

War ein Streit um Herrschaft. Gegen die Streitenden

Standen in Waffen die Etrusker, mächtig.

Ihren Streit auszumachen vor dem erwarteten Angriff

Stellten sich gegeneinander in Schlachtordnung

Die gemeinsam Bedrohten. Die Heerführer

Traten jeder vor sein Heer und sagten

Einer dem andern: Weil die Schlacht schwächt

Sieger und Besiegte, lasst uns das Los werfen

Damit ein Mann kämpfe für unsere Stadt

Gegen einen Mann, kämpfend für eure Stadt

Aufsparend die andern für den gemeinsamen Feind

Und die Heere schlugen die Schwerter gegen die Schilde

Zum Zeichen der Zustimmung und die Lose wurden geworfen.

Die Lose bestimmten zu kämpfen

Für Rom einen Horatier, für Alba einen Kuriatier.

Der Kuriatier war verlobt der Schwester des Horatiers

Und der Horatier und der Kuriatier

Wurden gefragt jeder von seinem Heer:

Er ist/Du bist verlobt deiner/seiner Schwester. Soll das Los

Geworfen werden noch einmal?

Und der Horatier und der Kuriatier sagten: Nein

Und sie kämpften zwischen den Schlachtreihen

Und der Horatier verwundete den Kuriatier

Und der Kuriatier sagte mit schwindender Stimme:

Schone den Besiegten. Ich bin

Deiner Schwester verlobt.

Und der Horatier schrie:

Meine Braut heißt Rom

Und der Horatier stieß dem Kuriatier

Sein Schwert in den Hals, dass das Blut auf die Erde fiel.

Als nach Rom heimkehrte der Horatier

Auf den Schilden der unverwundeten Mannschaft

Über die Schulter geworfen das Schlachtkleid

Des Kuriatiers, den er getötet hatte

Am Gürtel das Beuteschwert, in Händen das blutige eigne

Kam ihm entgegen am östlichen Stadttor

Mit schnellem Schritt seine Schwester und hinter ihr

Sein alter Vater, langsam

Und der Sieger sprang von den Schilden, im Jubel des Volks

Entgegenzunehmen die Umarmung der Schwester.

Aber die Schwester erkannte das blutige Schlachtkleid

Werk ihrer Hände, und schrie und löste ihr Haar auf.

Und der Horatier schalt die trauernde Schwester:

Was schreist du und lösest dein Haar auf.

Rom hat gesiegt. Vor dir steht der Sieger.

Und die Schwester küsste das blutige Schlachtkleid und schrie:

Rom.

Gib mir wieder, was in diesem Kleid war.

Und der Horatier, im Arm noch den Schwertschwung

Mit dem er getötet hatte den Kuriatier

Um den seine Schwester weinte jetzt

Stieß das Schwert, auf dem das Blut des Beweinten

Noch nicht getrocknet war

In die Brust der Weinenden

Dass das Blut auf die Erde fiel. Er sagte:

Geh zu ihm, den du mehr liebst als Rom.

Das jeder Römerin

Die den Feind betrauert.

Und er zeigte das zweimal blutige Schwert allen Römern

Und der Jubel verstummte. Nur aus den hinteren Reihen

Der zuschauenden Menge hörte man noch

Heil rufen. Dort war noch nicht bemerkt worden

Das Schreckliche. Als im Schweigen des Volks der Vater

Angekommen war bei seinen Kindern

Hatte er nur noch ein Kind. Er sagte:

Du hast deine Schwester getötet.

Und der Horatier verbarg das zweimal blutige Schwert nicht

Und der Vater des Horatiers

Sah das zweimal blutige Schwert an und sagte:

Du hast gesiegt. Rom Herrscht über Alba.

Er beweinte die Tochter, verdeckten Gesichts

Breitete auf ihre Wunde das Schlachtkleid

Werk ihrer Hände, blutig vom gleichen Schwert

Und umarmte den Sieger.

Zu den Horatiern jetzt

Traten die Liktoren, trennten mit Rutenbündel und Beil

Die Umarmung, nahmen das Beuteschwert

Vom Gürtel dem Sieger und dem Mörder aus der Hand das zweifach

Blutige eigne.

Und von den Römern einer rief:

Er hat gesiegt. Rom Herrscht über Alba.

Und von den Römern ein andrer entgegnete:

Er hat seine Schwester getötet.

Und die Römer riefen gegeneinander:

Ehrt den Sieger.

Richtet den Mörder.

Und Römer nahmen das Schwert gegen Römer im Streit

Ob als Sieger geehrt werden sollte

Oder gerichtet werden als Mörder der Horatier.

Die Liktoren

Trennten die Streitenden mit Rutenbündel und Beil

Und beriefen das Volk in die Versammlung

Und das Volk bestimmte aus seiner Mitte zwei

Recht zu sprechen über den Horatier

Und gab dem einen in die Hand

Den Lorbeer für den Sieger

Und dem andern das Richtbeil, dem Mörder bestimmt

Und der Horatier stand

Zwischen Lorbeer und Beil.

Aber sein Vater stellte sich zu ihm

Der erste im Verlust, und sagte:

Schändliches Schauspiel, das der Albaner selbst

Nicht ansäh ohne Scham.

Gegen die Stadt stehn die Etrusker

Und Rom zerbricht sein bestes Schwert.

Um eine sorgt ihr.

Sorgt um Rom.

Und von den Römern einer entgegnete ihm

Rom hat viele Schwerter.

Kein Römer

Ist weniger als Rom oder Rom ist nicht.

Und von den Römern ein anderer sagte

Und zeigte mit Fingern die Richtung des Feinds:

Zweifach mächtig

Ist der Etrusker, wenn entzweit ist Rom

Durch verschiedne Meinung

In unzeitigem Gericht.

Und der erste begründete so seine Meinung:

Ungesprochenes Gespräch

Beschwert den Schwertarm.

Verhehlter Zwiespalt

Macht die Schlachtreihe schütter.

Und die Liktoren trennten zum zweiten Mal

Die Umarmung der Horatier, und die Römer bewaffneten sich

Jeder mit seinem Schwert.

Der den Lorbeer hielt und der das Beil hielt

Jeder mit seinem Schwert, so dass die Linke jetzt

Den Lorbeer oder das Beil hielt und das Schwert

Die Rechte. Die Liktoren selbst

Legten aus der Hand einen Blick lang

Die Insignien ihres Amts und steckten

In den Gürtel jeder sein Schwert und nahmen

In die Hand wieder Rutenbündel und Beil

Und der Horatier bückte sich

Nach seinem Schwert, dem blutigen, das im Staub lag. Aber die Liktoren

Verwehrten es ihm mit Rutenbündel und Beil.

Und der Vater des Horatiers nahm sein Schwert auch und ging

Aufzuheben mit der Linken das blutige

Des Siegers, der ein Mörder war

Und die Liktoren verwehrten es ihm auch

Und die Wachen wurden verstärkt an den vier Toren

Und das Gericht wurde fortgesetzt

In Erwartung des Feinds.

Und der Lorbeerträger sagte:

Sein Verdienst löscht seine Schuld

Und der Beilträger sagte:

Seine Schuld löscht sein Verdienst

Und der Lorbeerträger fragte:

Soll der Sieger gerichtet werden?

Und der Beilträger fragte:

Soll der Mörder geehrt werden?

Und der Lorbeerträger sagte:

Wenn der Mörder gerichtet wird

Wird der Sieger gerichtet

Und der Beilträger sagte:

Wenn der Sieger geehrt wird

Wird der Mörder geehrt.

Und das Volk blickte auf den unteilbaren einen

Täter der verschiedenen Taten und schwieg.

Und der Lorbeerträger und der Beilträger fragten:

Wenn das eine nicht getan werden kann

Ohne das andere, das es ungetan macht

Weil der Sieger/Mörder und der Mörder/Sieger sind ein Mann, unteilbar

Sollen wir also von beidem keines tun

So dass da ein Sieg/Mord ist, aber kein Sieger/Mörder

Sondern der Sieger/Mörder heißt Niemand?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme

(Aber der Vater des Horatiers schwieg):

Da ist der Sieger. Sein Name: Horatius.

Da ist der Mörder. Sein Name: Horatius.

Viele Männer sind in einem Mann.

Einer hat gesiegt für Rom im Schwertkampf.

Ein andrer hat seine Schwester getötet

Ohne Notwendigkeit. Jedem das Seine.

Dem Sieger den Lorbeer. Dem Mörder das Beil.

Und der Horatier wurde gekrönt mit dem Lorbeer

Und der Lorbeerträger hielt sein Schwert hoch

Mit gestrecktem Arm und ehrte den Sieger

Und die Liktoren legten aus der Hand

Rutenbündel und Beil und hoben das Schwert auf

Das zweimal blutige mit verschiedenem Blut

Das im Staub lag und reichten es dem Sieger

Und der Horatier mit gekrönter Schläfe

Hielt sein Schwert hoch so dass für alle sichtbar war

Das zweimal blutige mit verschiedenem Blut

Und der Beilträger legte das Beil aus der Hand, und die Römer alle

Hielten jeder sein Schwert hoch drei Herzschläge lang

Mit gestrecktem Arm und ehrten den Sieger.

Und die Liktoren steckten ihre Schwerter

In den Gürtel wieder, nahmen das Schwert

Des Siegers aus der Hand dem Mörder und warfen es

In den vorigen Staub, und der Beilträger riß

Dem Mörder von der Schläfe den Lorbeer

Mit dem der Sieger gekrönt worden war und gab ihn

Wieder in die Hand dem Lorbeerträger und warf dem Horatier

Über den Kopf das Tuch in der Farbe der Nacht

In die zu gehen er verurteilt war

Weil er einen Menschen getötet hatte

Ohne Notwendigkeit, und die Römer alle

Steckten jeder sein Schwert in die Scheide

So dass die Schneiden alle bedeckt waren

Damit nicht teilhatten die Waffen

Mit denen der Sieger geehrt worden war

An der Richtung des Mörders. Aber die Wachen

An den vier Toren in Erwartung des Feinds

Bedeckten ihre Schwerter nicht

Und die Schneiden der Beile blieben unbedeckt

Und das Schwert des Siegers, das im Staub lag, blutig.

Und der Vater des Horatiers sagte:

Dieser ist mein letztes. Tötet mich für ihn.

Und das Volk antwortete mit einer Stimme:

Kein Mann ist ein andrer Mann

Und der Horatier wurde gerichtet mit dem Beil

Dass das Blut auf die Erde fiel

Und der Lorbeerträger, in der Hand

Wieder den Lorbeer des Siegers, zerrauft jetzt

Weil von der Schläfe gerissen dem Mörder

Fragte das Volk:

Was soll geschehn mit dem Leichnam des Siegers?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme:

Der Leichnam des Siegers soll aufgebahrt werden

Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein Schwert.

Und sie fügten zusammen ungefähr

Das natürlich nicht mehr Vereinbare

Den Kopf des Mörders und den Leib des Mörders

Getrennt voneinander mit dem Richtbeil

Blutig aus eigenem beide, zum Leichnam des Siegers

Auf den Schilden der Mannschaft, heil durch sein Schwert

Nicht achtend sein Blut, das über die Schilde floss

Nicht achtend sein Blut auf den Händen, und drückten ihm

Auf die Schläfe den zerrauften Lorbeer

Und steckten in die Hand mit den gekrümmten Fingern

Vom letzten Krampf sein staubig blutiges Schwert ihm

Und kreuzten über ihm die nackten Schwerter

Andeutend, dass nichts versehren solle den Leichnam

Des Horatiers, der gesiegt hatte für Rom

Nicht Regen noch Zeit, nicht Schnee noch Vergessen

Und betrauerten ihn mit verdecktem Gesicht.

Aber die Wachen an den vier Toren

In Erwartung des Feinds

Verdeckten ihre Gesichter nicht.

Und der Beilträger, in Händen wieder das Richtbeil

Auf dem das Blut des Siegers noch nicht getrocknet war

Fragte das Volk:

Was soll geschehn mit dem Leichnam des Mörders?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme

(Aber der letzte Horatier schwieg):

Der Leichnam des Mörders

Soll vor die Hunde geworfen werden

Damit sie ihn zerreißen

Also dass nichts bleibt von ihm

Der einen Menschen getötet hat

Ohne Notwendigkeit.

Und der letzte Horatier, im Gesicht

Zweifach die Tränenspur, sagte:

Der Sieger ist tot, der nicht zu vergessende

Solange Rom über Alba herrschen wird.

Vergesst den Mörder, wie ich ihn vergessen habe

Der erste im Verlust.

Und von den Römern einer antwortete ihm:

Länger als Rom über Alba herrschen wird

Wird nicht zu vergessen sein Rom und das Beispiel

Das es gegeben hat oder nicht gegeben

Abwägend mit der Waage des Händlers gegen einander

Oder reinlich scheidend Schuld und Verdienst

Des unteilbaren Täters verschiedener Taten

Fürchtend die unreine Wahrheit oder nicht fürchtend

Und das halbe Beispiel ist kein Beispiel

Was nicht getan wird ganz bis zum wirklichen Ende

Kehrt ins Nichts am Zügel der Zeit im Krebsgang.

Und der Lorbeer wurde dem Sieger abgenommen

Und von den Römern einer verneigte sich

Vor dem Leichnam und sagte:

Gestatte, dass wir aus der Hand brechen, Sieger

Dir nicht mehr Empfindendem

Das Schwert, das gebraucht wird.

Und von den Römern ein andrer spie auf den Leichnam und sagte:

Mörder, gib das Schwert heraus.

Und das Schwert wurde ihm aus der Hand gebrochen

Nämlich seine Hand mit der Totenstarre

Hatte sich geschlossen um den Schwertknauf

So dass die Finger gebrochen werden mussten

Dem Horatier, damit er das Schwert herausgab

Mit dem er getötet hatte für Rom und einmal

Nicht für Rom, das blutige einmal zu viel

Damit gebraucht werden konnte von andern besser

Was gut gebraucht hatte er und einmal nicht gut.

Und der Leichnam des Mörders, entzweit vom Richtbeil

Wurde vor die Hunde geworfen, damit sie

Ganz ihn zerrissen, so dass nichts bleibe von ihm

Der einen Menschen getötet hatte

Ohne Notwendigkeit, oder so viel wie nichts.

Und von den Römern einer fragte die andern:

Wie soll der Horatier genannt werden der Nachwelt?

Und das Volk antwortete mit einer Stimme:

Er soll genannt werden der Sieger über Alba

Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester

Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.

Und wer seine Schuld nennt und nennt sein Verdienst nicht

Der soll mit den Hunden wohnen als ein Hund

Und wer sein Verdienst nennt und nennt seine Schuld nicht

Der soll auch mit den Hunden wohnen.

Wer aber seine Schuld nennt zu einer Zeit

Und nennt sein Verdienst zu anderer Zeit

Redend aus einem Mund zu verschiedner Zeit anders

Oder für verschiedne Ohren anders

Dem soll die Zunge ausgerissen werden.

Nämlich die Worte müssen rein bleiben. Denn

Ein Schwert kann zerbrochen werden und ein Mann

Kann auch zerbrochen werden, aber die Worte

Fallen in das Getriebe der Welt uneinholbar

Kenntlich machend die Dinge oder unkenntlich.

Tödlich dem Menschen ist das Unkenntliche.

So stellten sie auf, nicht fürchtend die unreine Wahrheit

In Erwartung des Feinds ein vorläufiges Beispiel

Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den Rest

Der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel

Und gingen jeder an seine Arbeit wieder, im Griff

Neben Pflug, Hammer, Ahle, Schreibgriffel das Schwert.

V. DER WIRBEL

Der Schut kennt noch das Geheimnis, Feuer zu machen, das selbst unter der Oberfläche des Wassers brennt.

Als ich wieder aufblickte, befand ich mich zwischen zwei Strömungen, die sich eine Strecke von mir vorwärts trafen und einen gefährlichen Wirbel bildeten. Es war auf der Mitte des Flusses. Vor diesem Wirbel musste ich mich hüten. Ich wendete sofort, hatte aber lange und angstvoll zu arbeiten, bevor es mir gelang, die eine Strömung zu durchkreuzen und in ruhiges, sicheres Wasser zu kommen.

Jetzt erst konnte ich mich um den Schut kümmern. Durch das so genannte Wassertreten gab ich mir eine aufrechte Haltung und sah mich um. Da – gerade aus dem Wirbel, den ich so ängstlich vermieden hatte, tauchte er empor; er schoss fast bis zur Hälfte des Leibes aus dem Wasser, tat einen wahren Delphinensprung und überwand den Strudel.

Einschub 5:

Die Insel des großen Blutbades ihre Bewohner ihre Sitten hat es noch Zweck sie mitzuteilen TEKELILI TEKELILI (that corpse you planted last year in your garden has it begun to sprout will it bloom this year) die südliche Nebelwand heute höher verliert die graue Färbung das Wasser unheimlich warm auch sieht es bedeutend milchiger aus heftige Oberflächenbewegung in der Nähe des Bootes begleitet wie gewöhnlich von einem wilden Flackern am oberen Nebelrand ein weißer Staub fällt auf das Boot auf das Wasser aschenartig keine Asche der Nebel wird ruhig das Wasser glatt wir fragen NUNU warum das Blutbad er zeigt seine Zähne sie sind schwarz TSALAL ein weißes Tier schwimmt vorbei das Wasser so heiß dass die Hand brennt der aschenartige Staub fällt ohne Pause die Nebelwand nimmt andere Formen an ein Katarakt der schweigend von einem riesigen Wehr am fernen Himmel stürzt ein weißer Vorhang der den Horizont verdeckt kein Laut plötzlich Dunkelheit gleichzeitig aus der milchigen Tiefe ein Leuchten der Aschenregen keine Asche der uns begraben will OH KEEP THE DOG FAR HENCE THAT’S FRIEND TO MEN OR WITH HIS NAILS HE’LL DIG IT UP AGAIN wir treiben mit zunehmender Geschwindigkeit auf die Nebelwand zu manchmal reißt die Nebelwand und wir blicken in einen Wirbel aus flackernden Bildern wie Fetzen von Fotografien im Feuer ihre Gegenstände nicht mehr auszumachen lautlose Stürme wehen aus dem Riss über das glühende Wasser zwingen seinen Fluss in ihre Richtung große weiße Vögel gegen den Sturm TEKELILI TEKELILI ihren Schrei haben wir auf der Insel gehört sie selber nicht gesehen waren sie kleiner vor dem Blutbad der Wilde zuckt im Takt ihres Flügelschlags auf dem Boden des Bootes als wir ihn berühren ist er tot seine Haut eisig die Zähne weiß wir schneiden in seine Haut kein Blut mehr nach dem zweiten Schnitt geht sein Leichnam ohne sichtbaren Übergang in dem Nebel auf der jetzt nach unserem Boot greift THAT CORPSE wir gleiten in dem Katarakt ein breiter Durchgang tut sich auf wie zum Empfang hinter uns schließt sich der schäumende Nebel übermenschengroß eine Gestalt auf unserer Bahn THAT CORPSE YOU PLANTED ihre Haut ist weiß wie Schnee etwas greift in mein Gehirn OH KEEP THE DOG

english version:

the Island of the great bloodshed its inhabitants their customs is it of any use telling about them TEKELILI TEKELILI (that corpse you planted last year in your garden has it begun to sprout will it bloom this year) the southern curtain of mist higher today loses its grey hue the water was gloomy and also looking quite milky heavy surface agitation close to the boat accompanied as usual by a wild flickering at the upper rim of the mist white dust falling on the boat on the water ashen no ashes the mist settles the water is still we ask NUNU why this bloodshed he shows his teeth they are black TSALAL a white animal floating past the water so hot that it burns the hand ashen dust keeps falling the rising curtain of mist changes its outlines a cataract precipitating silently from an enormous weir in the distant sky a white curtain hiding the horizon no sound sudden darkness meanwhile from the milky profundity a radiance a rain of ashes no ashes wanting to bury us OH KEEP THE DOG FAR HENCE THAT’S FRIEND TO MEN OR WITH HIS NAILS HE’LL DIG IT UP AGAIN we are drifting towards the curtain of mist at increasing velocity sometimes there is a rift in the curtain of mist and we look into a whirl of flickering pictures like shreds of photographies in a fire their objects no longer discernible silent gales blowing through the rift across the red-hot water make it flow in their direction huge white birds against the gale TEKELILI TEKELILI we heard their cries on the island but did not see them had they been smaller before the bloodshed the savage twitches with the beat of their wings on the floor of the boat when we touch him he is dead his skin ice-cold his teeth white we cut into his skin no blood after the second cut his corpse vanishes suddenly in the mist reaching for us now THAT CORPSE we are floating on the cataract a wide opening as if to welcome us the foaming curtain of mist closing behind us larger than man a figure in our path THAT CORPSE YOU PLANTED its skin white as snow something is reaching into my brain OH KEEP THE DOG

VI. DAS GERICHT

Ich stieg in den Sattel und ritt zurück. Für Rih genüge das Wörtchen: „Kawâm – schnell!“ Kaum hatte ich es gesprochen, so flog er wie ein Pfeil dahin. In kaum einer Minute hatte ich die Schlucht erreicht. Der Rappe schoss zwischen den engen Felsen dahin wie ein Bolzen im Blasrohr.

Ich ließ die Arme mit dem Lasso sinken, nahm den Kopf des Rappen hoch, legte ihm die linke Hand abermals zwischen die Ohren und schrie, nein, ich brüllte:

„Rih, ia Rih, ia Rihti et taijib, natt, natt, natt – Rih, mein Rih, mein guter Rih, springen, springen, springen!“

Der Schut und ich, wir hatten keine Zeit, aufeinander zu achten. Jeder hatte mit sich und seinem Pferd zu tun. Aber er brüllte mir, als ich an ihm vorbeischoss, einen Fluch zu. Nun war der Spalt da. Straff die Zügel, legte ich mich weit nach vorn.

„Rih, hallak, ´ali, ´ali – Rih, jetzt, hoch, hoch!“, rief ich.

Mein Auge war in starrer Angst nach der gegenüberliegenden Felsenkante gerichtet. Wie breit der Spalt war, das sah ich nicht.

Einen halben Augenblick lang befand ich mich über der grauenhaften Tiefe.

Das alles hatte natürlich nur eine, nur zwei Sekunden gedauert. Ich raffte mich auf und blickte zurück. Da setzte eben der Rappe des Schut an. Er erreichte die diesseitige Kante nicht einmal. Ein Schrei, ein bluterstarrender Schrei, und Ross und Reiter stürzten in die Tiefe.

Das war ein gerechtes Gericht! Er hatte genau denselben Tod gefunden, den er andern bereiten wollte. Denn tot war er – er und sein Pferd. Es war gar keine Möglichkeit, dass beide lebendig in dieser Tiefe angekommen sein konnten. Dennoch lauschte ich einige Zeit und rief auch hinab, aber es war keine Antwort, kein Laut zu hören.

Kennt Ihr nicht das Gesetz, nach dem hier gehandelt wird?

Ich kenne es ebenso genau wie Ihr; aber wenn diese halbwilden Menschen danach handeln, so ist es keineswegs nötig, dass auch wir es uns zur Richtschnur unseres Verhaltens dienen lassen. Ihr habt räuberische Skipetaren gegen Euch gehabt, sie aber haben es mit einem Gentleman zu tun, der ein Christ ist. Würde es gentlemanlike von ihm sein, wenn er nach den Grundsätzen dieser Räuber handelte?“

O Allah, lass Feuer vom Himmel fallen und diese Fremden verzehren! Lass Gift aus den Wolken regnen, damit sie verderben wie das Gewürm, das ausgerottet wird!

Hört, ihr Sterblichen, die Stunde des Gerichts naht heran. In dieser Stunde werden die Augen der Menschen grässlich vor sich hinstarren, kein Augenlid wird zucken und ihre Herzen werden ohne Blut sein.

Die Erde wird beben und ihre Lasten abschütteln und der Mensch wird schreien: „Wehe, was ist ihr zugestoßen!“

Die Sonnen werden zittern, die Sterne erbleichen und die Berge schwanken. Die Raubtiere werden sich angstvoll zusammendrängen. Das Meer wallt auf und die Himmel werden hinweggenommen. Der Mond wird sich spalten und die Menschen werden vergeblich nach einem Zufluchtsort schreien.

Wehe dir! Hast du deine Seele nicht bereitet, vor dem Richter zu bestehen, so wäre es dir besser, du wärest nie geboren. Die Verdammnis wird dich umfangen und dich nie wieder ausspeien in alle Ewigkeit!

Berufe dich nur ja nicht auf dein Studium! Es hat dich so weit geführt, dass jetzt diese Maschine deine Kollegin ist und den Bau deines Körpers sehr eingehend studieren wird.

Einschub 6:

Es ist ein eigentümlicher Apparat.

Er besteht aus drei Teilen.

Es haben sich im Laufe der Zeit für jeden dieser Teile gewissermaßen volkstümliche Bezeichnungen ausgebildet. Der untere heißt das Bett. Der obere heißt der Zeichner. Und der mittlere, schwebende Teil heißt die Egge.

Die Nadeln sind eggenartig angeordnet, auch wird das Ganze wie eine Egge geführt, wenn auch bloß auf einem Plan und viel kunstgemäßer. Hier auf das Bett wird der Verurteilte gelegt.

Es ist ganz und gar mit einer Watteschicht bedeckt.

Auf diese Watte wird der Verurteilte bäuchlings gelegt, natürlich nackt. Hier sind für die Hände, hier für die Füße, hier für den Hals Riemen, um ihn festzuschnallen.

Am Kopfende des Bettes, wo der Mann zuerst mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, dass er dem Mann gerade in den Mund dringt. Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu hindern. Natürlich muss der Mann den Filz aufnehmen, da ihm sonst durch den Halsriemen das Genick gebrochen wird.

Sowohl das Bett, als auch der Zeichner haben ihre eigene elektrische Batterie. Das Bett braucht sie für sich selbst, der Zeichner für die Egge. Sobald der Mann festgeschnallt ist, wird das Bett in Bewegung gesetzt. Es zittert in winzigen, sehr schnellen Zuckungen gleichzeitig seitlich, wie auch auf und ab.

Der Egge ist die eigentliche Ausführung des Urteils überlassen.

Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben.

Es wäre nutzlos, ihm das Urteil zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.

Die Egge entspricht der Form des Menschen. Hier ist die Egge für den Oberkörper, hier sind die Eggen für die Beine, für den Kopf ist nur dieser kleine Stichel bestimmt.

Wenn der Mann auf dem Bett liegt und dieses ins Zittern gebracht wird, wird die Egge auf den Körper gesenkt. Sie stellt sich von selbst so sein, dass sie nur knapp mit den Spitzen den Körper berührt.

Ist die Einstellung vollzogen, strafft sich sofort dieses Stahlseil zu einer Stange.

Und nun beginnt das Spiel.

Ein Nichteingeweihter merkt äußerlich keinen Unterschied in den Strafen. Die Egge scheint gleichförmig zu arbeiten. Zitternd sticht sie ihre Spitzen in den Körper ein, der überdies vom Bett aus zittert.

Um es nun jedem zu ermöglichen, die Ausführung des Urteils zu überprüfen, wurde die Egge aus Glas gemacht.

Es hat einige technische Schwierigkeiten verursacht, die Nadeln darin zu befestigen. Es ist aber nach vielen Versuchen gelungen. Wir haben keine Mühe gescheut.

Und nun kann jeder durch das Glas sehen, wie sich die Inschrift im Körper vollzieht.

Sie sehen zweierlei Nadeln in vielfacher Anordnung. Jede lange hat eine kurze neben sich. Die lange schreibt, und die kurze spritzt Wasser aus, um das Blut abzuwaschen und die Schrift immer klar zu erhalten. Das Blutwasser wird dann in kleine Rinnen geleitet und fließt endlich in die Hauptrinne, deren Abflussrohr in die Grube führt.

Im Zeichner ist das Räderwerk, welches die Bewegung der Egge bestimmt. Und dieses Räderwerk wird nach der Zeichnung, auf welche das Urteil lautet, angeordnet.

Es ist keine Schönschrift für Schulkinder. Man muss lange darin lesen. Es darf natürlich keine einfache Schrift sein, sie soll ja nicht sofort töten, sondern durchschnittlich erst in einem Zeitraum von zwölf Stunden. Für die sechste Stunde ist der Wendepunkt berechnet. Es müssen also viele, viele Zierarten die eigentliche Schrift umgeben. Die wirkliche Schrift umzieht den Leib nur in einem schmalen Gürtel. Der übrige Körper ist für Verzierungen bestimmt.

Die Egge fängt zu schreiben an. Ist sie mit der ersten Anlage der Schrift auf dem Rücken des Mannes fertig, rollt die Watteschicht und wälzt den Körper langsam auf die Seite, um der Egge neuen Raum zu bieten. Inzwischen legen sich die wundbeschriebenen Stellen auf die Watte, welche in Folge der besonderen Präparierung sofort die Blutung stillt und zu neuer Vertiefung der Schrift vorbereitet.

Die Zacken am Rande der Egge reißen dann beim weiteren Umwälzen des Körpers die Watte von den Wunden, schleudern sie in die Grube, und die Egge hat wieder Arbeit. So schreibt sie immer tiefer die zwölf Stunden lang.

Die ersten sechs Stunden lebt der Verurteilte fast wie früher. Er leidet nur Schmerzen.

Nach zwei Stunden wird der Filz entfernt, denn der Mann hat keine Kraft zum Schreien mehr.

Hier in diesen elektrisch geheizten Napf am Kopfende wird warmer Reisbrei gelegt, aus dem der Mann, wenn er Lust hat, nehmen kann, was er mit der Zunge erhascht.

Keiner versäumt die Gelegenheit.

Erst um die sechste Stunde verliert er das Vergnügen am Essen.

Der Mann schluckt den letzten Bissen selten. Er dreht ihn nur im Mund und speit ihn in die Grube.

Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde. Verstand geht dem Blödesten auf.

Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern. Er spitzt den Mund, als horche er.

Es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern. Unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit. Er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung. Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht. Dann ist das Gericht zu Ende.

EPILOG

Das hinter uns liegende stille Dorf und die Wiesen mit den Tieren hatten ein idyllisches Aussehen, das keineswegs mit dem Zweck unseres Hierseins und mit dem Umstand zusammenpasste, dass Rugova der Ausgangspunkt so vieler Verbrechen gewesen war.

Es ist mehr als genug geschehen. Mir graut vor diesem Land. Beeilen wir uns, es zu verlassen! Ich mag es niemals wieder sehen.

Ich wanderte eine Strecke in die lautlose Morgenstille hinein. Kein Vogel ließ sich hören, kein Geräusch gab es ringsumher. Das war der geeignete Ort zum Insichschauen; aber je tiefer dieser Blick nach innen dringt, desto mehr sieht man ein, dass der Mensch nichts ist als ein zerbrechliches Gefäß, mit Schwächen, Fehlern und Hochmut gefüllt!

Das ist der Orient: Neben blendendem, trügerischem Licht ein desto tieferer, unheimlicher Schatten!

Anmerkungen:

Einschub 1: Heiner Müller, Ödipuskommentar

Einschub 2: Heiner Müller, Herakles 2 oder die Hydra

Einschub 3: Franz Kafka, Die Verwandlung (gekürzt von A.P.), Die letzten zwei Zeilen stammen aus: Heiner Müller: Wolokolamsker Chaussee IV

Einschub 4: Heiner Müller, Der Horatier

Einschub 5: Heiner Müller, Maelstromsüdpol

Einschub 6: Franz Kafka, In der Strafkolonie, bearbeitet von Heiner Müller

Alle übrigen Texte: Karl May, Der Schut, Bamberg, 1996 (bearbeitet von A.P.)

Ausgewählt und gekürzt von:

Andreas Pronegg

Wien, am 27.10.2019