5

Unser Ritt ging jetzt voraussichtlich seinem Ende zu; aber es stand zu erwarten, dass der letzte Teil der schwierigste sein würde.

Unser Führer erwies sich als munterer Bursche, so dass wir gar nicht daran dachten, die Zeit zu messen.

Wir befanden uns auf der rechten Seite des Wardar-Ufers in der Mustafa-Ebene.

Der Grund und Boden des osmanischen Reiches wurde in fünf verschiedene Klassen eingeteilt. Mirije, Wakuf, Mülk, Metruke, Mera.

(Erzähler)

15,16

„Was er will, das kann er.“

(Halef über Karas Kunst des Tschakan-Werfens)

22

Der einzige große Raum des Wohnhauses wurde durch Weidengeflechte in verschiedene Abteilungen geschieden. Man konnte jede dieser Scheidewände durch Verschiebung beliebig vergrößern oder verkleinern.

(Erzähler)

23

„Weißt du nicht, wo der Kara-Nirwan-Han liegt?“

„Diesen Namen kenne ich nicht.“

„Kennst du auch keinen Mann, der Kara Nirwan heißt?“

„Ebenso wenig.“

„Aber einen Perser kennst du, der das Geschäft des Pferdehandels treibt?“

„Ja. Der heißt aber im Mund des Volkes Kara Adschem. Was ist´s mit dem?“

„Ich habe ihn im Verdacht, der Schut zu sein.“

„Was? Dieser Perser?“

„Beschreibe ihn einmal.“

„Er ist länger und stärker als du und ich, ein wahrer Riese, und trägt einen schwarzen Vollbart, der weit bis zur Brust herabreicht. Er ist gleich mit der Faust oder mit der Pistole zur Hand, und man erzählt sich, dass schon mehrere, die ihn beleidigt hatten, den Mund nicht wieder öffneten, weil ein Toter nicht mehr reden kann. Aber von Raub und Diebstahl weiß ich nichts zu berichten.“

„Diese Beschreibung passt genau zu dem Bild, das ich mir von ihm gemacht habe.“

(Kara im Gespräch mit dem Gastgeber des Konaktschy-Hauses, unweit von Skopje)

32

„Warum sucht er gerade hier im Land der Skipetaren eine Frau?“

„Weil es hier die schönsten Töchter gibt und weil ihm geträumt hat, dass er die Blume seines Harems hier finden werde.“

(Hadschi im Verhör lügend über Karas Absichten. Die Stadt, in der er sie angeblich finden wird, ist Ostromdscha = Strumica, im südöstlichen Nordmazedonien)

33

Eine schnarrende Stimme ertönt aus dem Nebenraum:

„Deine Lüge ist so groß, dass sie mir in den Ohren brennt. Ich muss nun sagen, was ich weiß, und darf nicht länger schweigen.“

(Der Mübarek)

57

„Glogovik liegt an dem früher berühmten Bergpfad, der in Toli Monastir (alban. Stadt) beginnt und zwischen den Flüssen Treska und Drin fast grad nach Norden streicht und dann mit einer plötzlichen Wendung nach Osten in Kalkandelen (Tetovo) endet.“

()

58,59

Beschreibung des vollkommen heruntergekommenen Dorfes Glogovik (A.P.)

60

„Glogovik ist die Blume des Orientes,

wer´s mit Schaudern gesehen hat, der kennt es!“

(Der Erzähler, ein Zitat Heinrich Heines umwandelnd)

76

„Beni, dinle, jabandschy – höre mich, Fremder!“

(Ein langer, hagerer, dunkelbärtiger Mensch aus der Menge)

Bereits am Ende des zweiten Kapitels fallen die vielen Szenen auf, in denen Kara Ben Nemsi „zufällig“ und im Verborgenen Ohrenzeuge von Gesprächen wird, die den weiteren Verlauf seiner Reise und die bereits aufgestellten Fallen preisgeben (A.P.).

79

Rechts von uns strichen die Höhen des Schar Dagh nach Nordost. Wir näherten uns ihrem südwestlichen Vorstoß, der seinen Fuß von den kalten Wassern des schwarzen Drin bespülen lässt. Dann fließt von Norden her der weiße Drin herbei und der vereinigte Fluss wendet sich nach Westen, dem adriatischen Meer zu, dem nicht mehr fernen Ziel unseres Rittes.

(Der Erzähler schildert die folgende Reiseroute auf dem Weg zu Junak, dem Handlanger des Scharka, und seiner Frau Gußka)

82

Hadschi Halef Omars Muttersprache ist arabisch, mit moghrebinischem Dialekt (A.P.).

99

Sie essen Pferdefleisch (A.P.).

120

Beginn des Bärenkampfes, bei dem Mübarek stirbt (A.P.).

141

Bei der Beerdigung des Mübarek spricht der Kara Ben Nemsi das Gebet stehend in der Koreisch-Mundart des Originals. Anschließend betet Halef mit lauter Stimme und gefalteten Händen (A.P.):

„Hört, ihr Sterblichen, die Stunde des Gerichts naht heran. In dieser Stunde werden die Augen der Menschen grässlich vor sich hinstarren, kein Augenlid wird zucken und ihre Herzen werden ohne Blut sein.

Die Erde wird beben und ihre Lasten abschütteln und der Mensch wird schreien: `Wehe, was ist ihr zugestoßen!´

Die Sonnen werden zittern, die Sterne erbleichen und die Berge schwanken. Die Raubtiere werden sich angstvoll zusammendrängen. Das Meer wallt auf und die Himmel werden hinweggenommen. Der Mond wird sich spalten und die Menschen werden vergeblich nach einem Zufluchtsort schreien.

Wehe dir! Hast du deine Seele nicht bereitet, vor dem Richter zu bestehen, so wäre es dir besser, du wärest nie geboren. Die Verdammnis wird dich umfangen und dich nie wieder ausspeien in alle Ewigkeit!“

149

Auch hier muss wiederum die Peitsche drohend erhoben bzw. durch sie das zu erwartende Strafausmaß angezeigt werden, um die Aufmüpfigen in die Schranken zu weisen (A.P.).

150

Einen freien Ausblick gab es gar nicht. Der dunkle Wald hatte uns umfangen, er war fast als Urwald zu betrachten, aber was für ein Urwald!

Dieser Wald des Schar Dagh war mit keinem der genannten Urwälder zu vergleichen.

(Erzähler)

156

Das war eine schrecklich kompakte Felsenmasse, ein ungeheurer, mehrere hundert Fuß hoher Würfel plutonischen Gesteins, in den eine unterirdische Gewalt diesen Spalt gerissen hatte.

(Der Erzähler beschreibt die Teufelsschlucht)

175

„Man reitet nur eine Viertelstunde. Du kommst in ein großes, rundes Tal, das Tal der Trümmer genannt wird.“

()

179

„Diese Waffen sollten benutzt werden, uns zu töten. Jetzt sind sie unsere rechtmäßigen Beute, mit der wir nach Belieben schalten dürfen. Wir werden sie vernichten. Schlagt die Kolben von den Flinten und Pistolen und haut mit den Tschakans die Läufe krumm!“ –

Es waren ganz unbeschreibliche Gesichter, mit denen die bisherigen Besitzer dieser Waffen der Zerstörung jetzt zusahen.“

(Kara und der Erzähler)

182

Nachdem wir wohl eine Viertelstunde lang geritten waren, öffnete sich die Schlucht auf ein rundes, weites Tal, bei dessen Anblick ich unwillkürlich den Rappen anhielt. Es hatte die Gestalt einer tiefen Schüssel, deren Boden einen Durchmesser von fast einer Stunde haben konnte. Aber wie sah es in dieser Schüssel aus!

Die Ränder stiegen rundum felsig und ziemlich steil empor. Da, wo eine Vegetation hatte Wurzeln fassen können, standen mehrhundertjährige Nadelbäume, mit deren Dunkel das lebhafte Grün riesiger Laubhölzer kontrastierte. Nach Süden und nach Westen schien das Tal einen ziemlich breiten Ausgang zu haben. Die Sohle war mit Felsentrümmern fast ganz bedeckt, Trümmer von der Größe eines mehrstöckigen Palastes bis zum faustgroßen Stein herab. Über diesen Felsen breitete sich ein schimmernder Überzug von Weinreben, Efeu und sonstigem Gerank und zwischen ihnen hatte üppiges Gebüsch jeden Raum so sehr in Besitz genommen, dass ein Hindurchkommen gar nicht denkbar zu sein schien.

(Erzähler)

183

Das wunderte mich. Aber meiner Aufmerksamkeit noch würdiger erschien mir dieser Meiler, als ich den Blick erhob und über den dichten Wipfeln der Schwarzhölzer die gewaltige Krone einer riesigen Eiche ragen sah. Ich blickte rundum und sah keinen zweiten Baum dieser Art. Sollte dies die hohle Eiche sein, durch deren Inneres der heimliche Weg in die Höhle führte?

(Erzähler)

186

Also in Rugova wohnte der Schut! War es dann aber auch der Pferdehändler namens Kara Nirwan? Diese Frage wurde sofort beantwortet, denn der Sprecher fügte hinzu:

„Solche Pferde können wir brauchen, denn Kara Nirwan hat einen Einfall über die serbische Grenze beschlossen und zieht zu diesem Zweck eine Anzahl tapferer Männer bei Pristina zusammen, welche sehr gut beritten sein müssen. Er selbst will sie anführen und da muss ihm dieser Prachthengst überaus willkommen sein.“

„Einen Einfall im Großen? Ist das nicht sehr gefährlich?“

„Nicht so sehr, wie es den Anschein hat. Jetzt gärt es überall. Man spricht nicht mehr von Räubern, sondern von Patrioten. Das Handwerk hat den politischen Turban aufgesetzt. Wer nach dem Besitz anderer trachtet, der gibt an, sein Volk frei und unabhängig machen zu wollen.“

(Ein belauschter Bandit eröffnet Kara neuerlich Geheimnisse)

188/189

Also der Schut war wirklich jener persische Pferdehändler Kara Nirwan und wohnte in Rugova. Und ein Einfall nach Serbien war geplant, bei dem der Schut meinen Rih reiten sollte!

„Du nanntest ihn einen Fremden. So wohnt er also nicht hier im Land der Arnauten?“

„Nein, er ist ein Ausländer, ein Inglis.“

„Ah, die sind freilich stets reich. Habt ihr ihn schon in eurer Gewalt?“

„Noch nicht, aber er ist uns sicher. Er wohnt im Konak zu Rugova und scheint dort auf jemanden zu warten, der aber gar nicht kommen will. Dieser Mensch ist eine lächerliche Gestalt. Er ist sehr lang und dürr, trägt zwei blaue Fenster vor den Augen, hat einen Mund wie ein Köpek balyghy (Haifisch) und eine Nase, die jeder Beschreibung spottet. Er lebt wie ein Großsultan und niemand kann ihm die Speisen kostbar genug zubereiten. Wenn er seinen Beutel öffnet, so sieht man nur Goldstücke flimmern, aber dennoch kleidet er sich wie ein Spaßmacher in den Schattenspielen. Sein Anzug ist ganz grau und auf dem Kopf hat er einen grauen Hut, der so hoch ist wie das Minareh der Omajja-den-Moschhee zu Damaskus.“

(Der Bandit plaudert unwissentlich weitere Details aus)

190

„Was er ist, das weiß ich nicht. Er hat einen Titel, der wie „Sörr“ ausgesprochen wird, und sein Name ist auch ein fremdes Wort, das ich noch nie gehört habe und auch nicht verstehe. Es klingt wie Linseh. Merk es dir!“

Jetzt war gar kein Zweifel über die Person des Engländers mehr möglich. Es handelte sich wirklich um meinen guten, wenn auch etwas sonderbaren David Lindsay.

(Der Bandit und der Erzähler)

192

Ich stieg in den Sattel und ritt zurück. Für Rih genüge das Wörtchen „kawâm – schnell!“ Kaum hatte ich es gesprochen, so flog er wie ein Pfeil dahin. In kaum einer Minute hatte ich die enge Schlucht erreicht. Der Rappe schoss zwischen den engen Felsen dahin wie ein Bolzen im Blasrohr.

(Erzähler)

196

Das ist der Orient: Neben blendendem, trügerischem Licht ein desto tieferer, unheimlicher Schatten!

(Erzähler)

199

„Dieser Effendi ist ein Alim (Gelehrter) aus Dschakova, der sich gerade wie ihr auf der Reise befindet.“

(Ein Fremder wird dem Kara vorgestellt)

200

„Also du kommst aus Dschakova. Wohin wird dein Weg dich von hier aus führen?“

„Nach Köprülü (Veles).“

„So hättest du über Prisren und Usküb (Skopje) reiten sollen.“

(Kara und Alim)

226

„Wohin reiten wir?“

„Nach Rugova zum Schut.“

(Dialog zwischen Kara und Halef)

253

„Kennt Ihr nicht das Gesetz, nach dem hier gehandelt wird?“

„Ich kenne es ebenso genau wie Ihr; aber wenn diese halbwilden Menschen danach handeln, so ist es keineswegs nötig, dass auch wir es uns zur Richtschnur unseres Verhaltens dienen lassen. Ihr habt räuberische Skipetaren gegen Euch gehabt, sie aber haben es mit einem Gentleman zu tun, der ein Christ und nebenbei ein Lord von Altengland ist. Würde es gentlemanlike von ihm sein, wenn er nach den Grundsätzen dieser Räuber handelte?“

(Gespräch zwischen Kara und Lord Lindsay)

256

„Berufe dich nur ja nicht auf dein Studium! Es hat dich so weit geführt, dass jetzt die Peitsche deine Kollegin ist und den Bau deines Körpers sehr eingehend studieren wird.“

(Kara zu Alim)

258

„Kara Nirwan ist dir bekannt?“

„Ja, ich kenne ihn, denn er ist oft hier.“

„Wo liegt sein Han? Im Ort Rugova selbst?“

„Nein, sondern vor der Stadt.“

„Und der Karaul, den er als Versteck benutzt?“

„In dem Wald, durch den früher der Weg ging, der die Grenze des Miriditengebiets bildete. Längs dieser Grenze waren zum Schutz zahlreiche Karauls aufgestellt, von denen nur dieser eine noch vorhanden zu sein scheint.“

(Kara verhört den Köhlerknecht)

262

„O Allah, lass Feuer vom Himmel fallen und diese Fremden verzehren! Lass Gift aus den Wolken regnen, damit sie verderben wie das Gewürm, das ausgerottet wird!“

(Der Köhler Scharka verflucht die Eindringlinge)

267

Alle Anwesenden, ich nicht ausgenommen, stießen einen Ruf der Verwunderung aus, denn wir sahen eine ganz kostbare, altskipetarische Waffenrüstung vor uns liegen.

(Erzähler)

268

Ich war Waffenkenner genug, sofort zu sehen, dass sie eine fein gravierte arabische Inschrift trug. Sie war sehr leicht zu lesen und lautete: „Ismi es ßa´ika – ich bin der einschlagende Blitz.“ (…)

Der Griff bestand aus Elfenbein, in das die erste Sure des Koran schwarz eingebeizt war. (…)

Der Säbel war im Jahre 644 der Hedschra, die in das Jahr 622 nach Christi Geburt fiel, geschmiedet worden (also im Jahr 1246).

(Erzähler)

270

Die Bergbewohner sind in Stämme geteilt, die ganz unabhängig sind – sowohl voneinander als auch von der türkischen Herrschaft. An der Spitze eines jeden Stammes steht ein Bajraktar, der mit Hilfe einiger Unteranführer den Stamm regiert. Alle an einer Privatperson begangenen Verbrechen werden nicht vom Staat, sondern von dem Beschädigten und dessen Familienmitgliedern bestraft, weshalb ja hier die Blutrache noch heute in voller Blüte steht. Übergebe ich einem solchen Bajraktar die Rüstung, so bin ich sicher, dass er sie nicht unterschlagen wird, selbst wenn sie das Eigentum des Angehörigen eines anderen Stammes ist.

(Erzähler)

272

Unterdessen waren die Lumpen aufgebunden und die Beutel geöffnet worden. Sie bestanden aus Wildleder und waren mit einer schönen Perlenstickerei versehen, in deren Mitte wir auf beiden Beuteln den Namen „Stojko Vites“ lasen. Es waren Buchstaben des kyrillischen Alphabets, dessen man sich auch in Serbien und in den an dasselbe grenzenden Bergländern bedient. Vites ist das deutsche Wort „Ritter“. Es war leicht zu schließen, dass der Eigentümer dieses Geldes den Namen Vites trug, weil seine Ahnen Ritter gewesen waren.

„Kannst du lesen?“, fragte ich den Köhler.

„Nein“, antwortete er.

„Du heißt Scharka. Das ist dein Vorname. Wie aber lautet dein Familienname?“

„Visosch.“

„Und deine Ahnen haben ebenso geheißen?“

„Sie gehörten alle dieser berühmten Familie an und ein Visosch hat auch den Panzer anfertigen lassen.“

„Das ist Lüge. Jetzt hast du dich gefangen. Diese Rüstung und dieses Geld gehörten einem Mann, der Stojko Vites heißt. Willst du das leugnen?“

Er starrte mich in maßlosem Erstaunen an. Er hatte nicht gewusst, dass die Stickerei Buchstaben bildete, und konnte sich nun unmöglich erklären, wie ich auf diesen Namen gekommen sei.

„Du hast den Teufel!“, stieß er hervor.

„Und du fährst zum Teufel!“

(Kara und Scharka Visosch)

279

„Auch ich bin ein geborener Arnaut. Ich habe als Dolmetscher mit Leuten zu tun, die ebenso hinterlistig wie gewalttätig sind.“

(Der Dolmetscher Fan Hoti zu Kara)

283

„Wer sich in die Geheimnisse des Schut eindrängt, der ist verloren.“

(Alim zu Kara)

294

Seine Erzählung war halb türkisch, halb arabisch gehalten und reichlich mit englischen und deutschen Bezeichnungen gespickt. Letztere brachte er möglichst oft an, ohne sich sehr darum zu kümmern, ob sie richtig seien oder nicht. Das gab denn einen Mischmasch, der mir heimlich außerordentliches Vergnügen machte.

(Der Erzähler über die „Sprachkünste“ von Halef)

296

„Plan? Brauche nicht. Geschichte wird stets anders als im Plan.“

(Lord Lindsay)

296

„Kaufte mir ´Redhouse Turkish and English dictionary´.“

(Lindsay)

298

„Wo war er denn?“

„Fort, in die Gegend von Pristina, in das so genannte Amselfeld, um Getreide einzukaufen.“

(Kara im Dialog mit Lindsay über den Aufenthaltsort des Kaufmanns Galingré)

308

„Fand sich denn der Schut in dem Buch zurecht?“

„Sehr leicht, konnte ja türkische Schrift lesen. Holte mich am nächsten Tag in abgelegene Stube, nur er und ich, Buch auf dem Tisch. Hatte sich Wörter angezeichnet, las sie mir türkisch vor und deutete dann auf die danebenstehende englische Übersetzung. Am meisten wiederholten sich dabei die Worte Kanadli aslan und Maden.“

„Also ein geflügelter Löwe in einem Bergwerk?“

(Kara und Lindsay)

309

„Seht euch nur diesen Kara Nirwan an! Hat ein so ehrliches Gesicht, dass man sofort Vertrauen schenken muss. Habe erst hier erfahren, dass er der Schut ist.“

(Lindsay zu Kara)

310

„Wusste nicht, wie lange ohne Besinnung. Endlich Tür geöffnet, Schut kam. Hatte Licht, Tinte, Papier, Feder, Wörterbuch, Zettel. Hielt mir Pistole vor, verlangte Anweisung auf 250 000 Piaster, sonst tot.“

(Lindsay)

313

Zwei Decken trugen in einer Ecke die Buchstaben St. und V. Das sollte jedenfalls Stojko Vites heißen.

(Erzähler)

315

Die Gebirge der Balkanhalbinsel – besonders die westlich gelegenen und vor allem der Schar Dagh – sind meist von gewaltigen, tief zerklüfteten Felsmassen gebildet. Senkrechte Wände von mehreren hundert Metern Höhe sind da gar keine Seltenheit. Zwischen diesen eng beieinander stehenden Mauern tritt das Gefühl äußerster Hilflosigkeit an den Fremden heran. Es ist, als ob die schweren Massen über ihm zusammenbrechen wollen.

Bei diesem Aufbau des Hochlandes ist es sehr erklärlich, dass die Bewohner desselben den fremden Eroberern gegenüber stets mehr oder weniger ihre Unabhängigkeit bewahrten. Diese finsteren, drohenden, kalten Schluchten und Gründe sind natürlich von großem Einfluss auf den Charakter und die physische Beschaffenheit der Bevölkerung gewesen. Der Skipetar ist gegen Fremde ebenso ernst, abgeschlossen und feindselig wie sein Land. Seine sehnige, kraftvoll elastische Gestalt, sein ernstes Gesicht mit dem granitnen, unerbittlichen Zügen, sein kalt blickendes und abweisend drohendes Auge stimmt ganz mit der Beschaffenheit der von ihm bewohnten Berge überein. Sein Inneres zeigt wenig helle, freundliche Punkte; es ist von tiefen Spalten und Rissen durchzogen, in deren Gründen die Wasser des Hasses, der Rache und des unversöhnlichen Zornes schäumen. Selbst untereinander sind diese Leute argwöhnisch und misstrauisch. Die Stämme schließen sich voneinander ab, die einzelnen Familien und Personen ebenso. Doch dem Eindringling gegenüber scharen sie sich zusammen wie ihre aneinander stehenden Felsen, die dem Reisenden nur an seltenen Stellen einen schmalen, mühsamen Durchgang gewähren.

(Erzähler)

316

Den ersten Menschen, der uns begegnete, fragten wir nach Dulak, dem Steinbrecher. Der Mann war ausgerechnet dessen Bruder.

(Erzähler)

317

„Du musst wissen, Effendi“, sagte Dulak, „dass du dich sonst auf niemanden verlassen kannst. Der reiche Kara Nirwan hat es verstanden, sich überall beliebt zu machen. Kein Mensch wird glauben, dass er der Schut sei.“

(Dulak zu Kara)

327

Wäre es je einmal mein Wunsch gewesen, einen wirklichen Kampf mit dem Heiduckenbeil mitzumachen, so hätte ich mich jetzt vollständig befriedigt sehen können. Zwei Tschakans gegen einen! Zwei Riesen, die auf dieser Waffe eingeübt waren, gegen mich, der ich bisher nur den viel leichteren, ich möchte sagen, eleganteren Tomahawk geführt hatte! Nur die größte Kaltblütigkeit konnte mich retten. Ich durfte meine Kraft nicht ausgeben; ich musste mich darauf beschränken, die gegen mich gerichteten Hiebe vorsichtig zu parieren, um dann jeden sich mir bietenden Vorteil blitzschnell auszunützen. Was man in solchen Augenblicken denkt und fühlt, das weiß man später nicht mehr.

(Der Erzähler)

339

„Du beobachtest ihn nicht so, wie ich es tue. Er ist die Wüste gewohnt und den Sonnenbrand. Er braucht das Futter, das er nur dort haben kann. Er wird sich beim ärmsten Araber wohler fühlen als in meiner Heimat im herrlichsten Stall. Wer wird ihn dort behandeln wie ein Kind des Hauses? Wer wird ihm des Abends vor dem Schlafengehen die Sure des Koran ins Ohr sagen, so wie er es seit dem Tag seiner Geburt gewohnt ist? Noch sind wir im Land des Großherrn und doch ist er bereits krank. Sein Haar ist nicht mehr wie der Faden der Spinne, seine Augen sind hell, aber nicht mehr voll Feuer. Er weiß, dass du sein Freund bist, und wird dir gehorchen, wie er mir gehorcht hat, wenn du des Abends die Sure nicht vergisst. Also um seinetwillen darf ich ihn nicht behalten. Ich muss ihn der Heimat zurückgeben aus Dankbarkeit für das, was er mir geleistet hat. Und wenn ich, indem ich das tue, zugleich dich glücklich mache, so ist das ein Grund mehr, ihn dir zu schenken. Sobald wir das Wasser der See erreichen, ist er dein Eigentum.“

(Kara zu Halef über sein Pferd Rih, das er ihm vor seiner Rückreise nach Mitteleuropa schenken möchte)

353

Er trug die Tracht der mohammedanischen Skipetaren: kurze, glänzende Stiefel, weiße, mit schwarzen Borsten besetzte Hosen, rote, mit Gold verbrämte Jacke, auf deren Brustteilen silberne Patronenbehälter befestigt waren, ein langes rotes Gürteltuch, aus dem die Griffe zweier Pistolen und eines krummgebogenen Handschars hervorsahen, und auf dem Kopf einen roten Fes mit langer Quaste. Dieser Kleidung nach war er sehr wohlhabend.

Sein hageres Gesicht mit außerordentlich kühn geschnittenen Zügen hatte eine intensiv gelbe Farbe – „schut“ nennt das der Serbe; ein dichter, schwarzer Bart ging ihm in zwei Spitzen fast bis auf die Brust herab und tiefschwarz war auch die Farbe seiner Augen, die weit offen und groß auf uns gerichtet waren.

Er hatte den Mund geöffnet, sodass seine weißen Zähne zwischen dem Bart hervorschimmerten, und seine Rechte hielt den Griff des Handschar umfasst; dabei war sein Körper weit nach vorn gebeugt. Es hatte ganz das Aussehen, als ob er mit der Klinge sich uns entgegenstürzen wollte. Ich hatte ihn noch nie gesehen, aber ihn erblicken und erkennen war eins.

(Der Erzähler erblickt zum ersten Mal Kara Nirwan alias den Schut)

359

„Du bist ein Giaur aus Almânja, den wir bald kleinmütig machen werden.“

„Und du bist ein Schiit aus Persien, der Hassan und Hussein verehrt. Nenne dich also ja nicht einen Rechtgläubigen und bring das Wort Giaur nicht noch einmal, sonst bekommst du eine solche Ohrfeige wie der Muchtar! Woher weißt du, dass ich ein Fremder aus Almânja bin? Du hast dich durch dieses Wort verraten. Deine Rolle als Schut ist in diesem Augenblick ausgespielt!“

„Schut?“, fragte er erbleichend.

„Schut?“ riefen auch die anderen.

„Ja, dieser Schiit Nirwan ist der Schut.“

(Der Moment der „Wahrheit“ zwischen Schut und Kara)

362

„Allah! Allah! Das soll ich hören und dulden! Ich soll ein Räuber und Mörder sein! Frage die Leute, die deine Lügen hören! Sie werden dir sagen, wer ich bin. Und wenn du fortfährst, mich in einer so frechen Weise zu beschuldigen, so werden sie das nicht dulden, sondern mich beschützen. Nicht wahr, das werdet ihr, ihr Männer und Einwohner von Rugova? Könnt ihr ruhig zusehen, dass ein Fremdling, ein Christ, es wagt, mich, der ich der Wohltäter so vieler bin, in dieser Weise zu beschuldigen?“

„Nein, nein!“, riefen mehrere Stimmen. „Fort, weg mit diesem Giaur! Er soll kein Wort mehr sagen dürfen!“

„Ist es Schimpf, ein Christ zu sein? Wohnen nicht gerade hier in Rugova Bekenner des Islam und der Bibel friedlich beisammen? Sehe ich nicht Leute hier stehen, die den Rosenkranz umhängen haben, die also Christen sind? An diese Leute wende ich mich, wenn Kara Nirwan sich auf die Mohammedaner stützt. Was ich ihm vorgeworfen habe, ist alles wahr, ich werde es beweisen. Der Perser ist der Schut, verstanden – der Schut! Auch das kann ich euch beweisen, wenn ihr es ruhig anhören wollt.“

Da donnerte mich der Pferdehändler an:

„Schweig! Sonst schieße ich dich nieder wie einen Hund, den man nur durch die Kugel von seiner Räude befreien kann!“

Ich hätte ihn am liebsten niedergeschlagen, aber die Stimmung war, wie ich deutlich sah, gegen mich.

(Der Schut, die Einwohner, Kara Ben Nemsi und der Pferdehändler im Streit)

375

Als ich wieder aufblickte, befand ich mich zwischen zwei Strömungen, die sich eine Strecke von mir vorwärts trafen und einen gefährlichen Wirbel bildeten. Es war auf der Mitte des Flusses. Vor diesem Wirbel musste ich mich hüten. Ich wendete sofort, hatte aber lange und angstvoll zu arbeiten, bevor es mir gelang, die eine Strömung zu durchkreuzen und in ruhiges, sicheres Wasser zu kommen.

Jetzt erst konnte ich mich um den Schut kümmern. Durch das so genannte Wassertreten gab ich mir eine aufrechte Haltung und sah mich um. Da – gerade aus dem Wirbel, den ich so ängstlich vermieden hatte, tauchte er empor; er schoss fast bis zur Hälfte des Leibes aus dem Wasser, tat einen wahren Delphinensprung und überwand den Strudel. Dann hielt er nach dem Ufer herüber, in dessen Nähe ich mich befand.

(Der Erzähler schildert den Kampf mit dem Schut in den Wasserwirbeln)

378

Eine Hose zu borgen, war eine sehr heikle Sache. Zum Glück besaß der Wirt neue Schalwar (türkische Pumphosen), die er noch nicht getragen hatte, und diese zog ich an.

(Der Erzähler berichtet von dem „gefährlichen“ Moment des Umkleidens von Kara)

385

Der Skipetar rächt nur das, was ihm selbst und den Gliedern seiner Familie oder seines Stammes geschehen ist. Hier aber handelte es sich um zwei fremde Menschen, an denen die Bewohner von Rugova kein wärmeres Interesse hatten. Auf ihre Hilfe durfte ich mich ja nicht allzu fest verlassen.

(Der Erzähler sieht die Reaktionen der Einwohner auf die Leidensgeschichte von Stojko und Galingré)

387

„Sollte sich der Schut eines Fischek urumi (Griechisches Feuerwerk) bedient haben?“

„Das gibt es wohl nicht mehr.“

„O doch! Es sollen noch Leute das Geheimnis kennen, Feuer zu machen, das selbst unter der Oberfläche des Wassers brennt.“

(Gespräch zwischen dem Alten und Kara Ben Nemsi)

388

Die Blicke sah er nicht, denn er hielt die Augen geschlossen, und die Worte beachtete er nicht.

(Der Erzähler erwähnt, dass der Schut seit seiner Gefangennahme die Augen verschlossen hält)

390

Wie mochte es dem Schut zu Mute sein! Dieser Mensch zuckte mit keiner Miene, nicht mit den Spitzen des Schnurrbarts. Er befolgte das Verhalten eines Käfers, der sich in der Nähe seiner Feinde tot stellt. Beim Käfer geschieht dies aus Todesangst, beim Menschen aber ist jedenfalls die Scham eine der Ursachen und dies ließ mich von dem Schut nicht mehr gar so schlecht denken wie vorher. Freilich war es nicht das richtige Scham- und Ehrgefühl, das ihm die Augen schloss.

„Ein Teufel kann keine Scham empfinden. Er hat sich hier bei uns eingeschlichen und uns während langer Jahre getäuscht. Effendi, du bist es, der ihm die Maskara (Larve, Maske) abgerissen hat, du sollst nun auch bestimmen, was mit ihm zu geschehen hat.“

(Der Erzähler und der Alte)

396

Dieser noch nicht ganz dreißigjährige junge Mann bot das Bild eines echten Skipetaren. Seine hohe, sehnige Gestalt war in roten, mit goldenen Tressen und Schnüren verzierten Stoff gekleidet. Die Füße steckten in Opanken, die aus einem einzigen Stück Leder bestanden und mit silbernen Ketten und den untern Saum der Hosen festgehalten wurden. Sein gebräuntes Gesicht war scharf geschnitten. Die Oberlippe bedeckte ein starker Schnurrbart, dessen Spitzen er bis hinter die Ohren hätte ziehen können. Seine dunklen Augen hatten den Blick des Adlers. Wehe dem, über den der Racheruf dieses Mannes erschallte!

„“T´u nja tjeta (Langes Leben)! Erst der Dank und dann die Rache. Ihr habt die Mörder unschädlich gemacht und dann meinen Oheim befreit. Verlangt alles von mir, was mir möglich ist, ich werde es tun; aber verlangt nicht Gnade für die, die unser Stahl treffen muss.“

(Der Erzähler und der junge Skipetar)

400

„Effendi, weißt du, was ein Skipetar tut, wenn sein Geschenk zurückgewiesen wird?“

„Ich bin noch nicht in der Lage gewesen, es zu erfahren.“

„So will ich es dir sagen. Er rächt diese Beleidigung oder, wenn er dem Beleidiger Dankbarkeit schuldet, sodass er sich nicht rächen kann, so vernichtet er die Gabe, die verachtet wird. Auf keinen Fall aber nimmt er sie zurück.“

(Stojko und Kara)

404

„Onu getiorlar – sie bringen ihn!“, rief eine Stimme aus dem einen Haufen. „Kara Nirwan ist unschuldig; gebt ihm die Freiheit!“

„Jok, jok, katildir – nein, nein, er ist ein Mörder!“, ertönte es von der anderen Seite. „Er muss sterben, sofort, unbedingt!“

(Die Bevölkerung ist uneins über das weitere Schicksal des Schut)

405

Niemand dachte an seine Arbeit, heute war ein Tag, wie es in Rugova noch niemals einen gegeben hatte.

(Der Erzähler über die Stimmung im Dorf)

406

Das hinter uns liegende stille Dorf und die Wiesen mit den Tieren hatten ein idyllisches Aussehen, das keineswegs mit dem Zweck unseres Hierseins und mit dem Umstand zusammenpasste, dass Rugova der Ausgangspunkt so vieler Verbrechen gewesen war.

(Der Erzähler, nachdem sie Rugova den Rücken gekehrt haben und den Schut nun an einen anderen Ort bringen)

406

„Iam tamam njizet e Katrí vjet!“

Das war albanisch und heißt auf Deutsch: „Ich bin grad vierundzwanzig Jahre alt.“ Ehe ich noch zu denken vermochte, was dies zu bedeuten habe, rief die Stimme weiter:

„Moti i emiré!“

Das heißt: „Es ist sehr schönes Wetter.“ Und darauf folgten die Worte:

„Ssa oscht ßahati – wie viel Uhr ist es?“

Worauf eine zweite Stimme erwiderte:

„Oscht tamam katré ßahati – es ist genau vier Uhr.“

Diese lauten Zurufe galten natürlich dem Schut. Ich legte den Stutzen an und sandte zwei Kugeln nach der Stelle empor, an der sich dem Schall der Stimmen nach die beiden Rufer befinden mussten.

„Soti i jem, kuku lele – ach Gott, wehe mir!“, schrie es oben.

Ich hatte getroffen.

(Der Erzähler berichtet von den zwei geheimnisvollen Stimmen, wovon eine für immer verstummt)

410/411

Die Frau, die ich gesehen hatte, war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt. Bei ihr befanden sich zwei alte Weiber. Alle drei waren gut gekleidet. Die Schuta war noch immer eine schöne Frau. Sie besaß wohl einen sehr leidenschaftlichen Charakter und war jedenfalls mehr oder weniger die Vertraute ihres Mannes. Die beiden andern waren alte Frauen, wie man eben dort tausend alte Weiber findet, durch nichts als durch ihre Hässlichkeit ausgezeichnet.

(Der Erzähler beschreibt die drei Frauen im Han von Kara Nirwan)

417

Ich klopfte und rief:

„Atschynis, Ssyrdasch – öffnet, ein Vertrauter!“

„schimdi – sogleich!“, antwortete es hinter dem Tor.

Wir drangen ein.

(Der Erzähler bzw. Kara verschafft sich durch einen Trick Zutritt zum Innenhof des Kara-Nirwan-Han)

418

An einem der Giebel las ich das Wort „Jasyhane“ und über demselben stand ein arabisches Dal. Was dieser Buchstabe zu bedeuten hatte, wusste ich nicht.

(Inschrift auf einer der sechs Stallungen im Hof)

430

„Ich kenne den Weg und im Übrigen sind wir Skipetaren und können uns auf unsere Augen und unsere Pferde verlassen.“

(Stojko zu Kara)

422

„Kara Nirwan will nicht ganz bis Gori, sondern nur bis zum Han, der Nevera-Han heißt.“

Nevera ist serbisch und bedeutet „verräterisch“.

(Der Hirte zu Kara)

455

„Rih! Ein anderer als ich, der ich an mein Tier gewöhnt war, hätte die Augen schließen müssen, um nicht aus dem Sattel zu taumeln.“

(Kara „beflügelt“ sein Pferd mit einem weiteren Ruf auf der Jagd nach dem Schut)

456

So ließ ich die Arme mit dem Lasso sinken, nahm den Kopf des Rappen hoch, legte ihm die linke Hand abermals zwischen die Ohren und schrie, nein, ich brüllte:

„Rih, ia Rih, ia Rihti et taijib, natt, natt, natt – Rih, mein Rih, mein guter Rih, springen, springen, springen!“

Der Schut und ich, wir hatten keine Zeit, aufeinander zu achten. Jeder hatte mit sich und seinem Pferd zu tun. Aber er brüllte mir, als ich an ihm vorbeischoss, einen Fluch zu. Nun war der Spalt da. Straff die Zügel, legte ich mich weit nach vorn.

„Rih, hallak, ´ali, ´ali – Rih, jetzt, hoch, hoch!“, rief ich.

Mein Auge war in starrer Angst nach der gegenüberliegenden Felsenkante gerichtet. Wie breit der Spalt war, das sah ich nicht.

Einen halben Augenblick lang befand ich mich über der grauenhaften Tiefe.

(Der Erzähler)

457

Das alles hatte natürlich nur eine, nur zwei Sekunden gedauert. Ich raffte mich auf und blickte zurück. Da setzte eben der Rappe des Schut an. Er erreichte die diesseitige Kante nicht einmal. Ein Schrei, ein bluterstarrender Schrei, und Ross und Reiter stürzten in die Tiefe.

Das war ein gerechtes Gericht! Er hatte genau denselben Tod gefunden, den er andern bereiten wollte. Denn tot war er – er und sein Pferd. Es war gar keine Möglichkeit, dass beide lebendig in dieser Tiefe angekommen sein konnten. Dennoch lauschte ich einige Zeit und rief auch hinab, aber es war keine Antwort, kein Laut zu hören.

(Der Erzähler lauscht und lauscht)

477

Also ein Duell! Ein schauriges zwar, aber doch ein – Duell.

(Der Erzähler bereitet den Leser auf den Zweikampf zwischen Omar und Hamd el Amasat vor)

479

Eine kleine Bewegung seiner Daumen, ein kräftiger Druck und Hamd el Amasat stieß ein Geheul aus wie ein verwundeter Panther und ließ die Hände von dem Hals seines Gegners los, denn dieser hatte ihm – beide Augen ausgedrückt.

(Der Erzähler schildert das Ende des Kampfes)

480/481

„Ich habe Hamd el Amasat nur geblendet. Als er dann hilflos vor mir stand, konnte ich es nicht über mich gewinnen, ihn zu töten. Er mag sein dunkles Leben langsam zu Grabe schleppen. Er hat das Licht seiner Augen verloren und wird nun keinem Menschen mehr schaden können.“

„Es ist vorüber, Sidhi!“, rief Halef mir entgegen, „und wir sind einverstanden, dass der zehnfache Mörder nicht getötet worden ist. Das Leben wird für ihn schlimmer sein als der Tod. Was aber soll nun mit den Bewohnern dieses Nevera-Han geschehen? Sie sind mit dem Schut einverstanden gewesen.“

„Lasst sie laufen! Sie gehen uns nichts an. Es ist mehr als genug geschehen. Mir graut vor diesem Land. Beeilen wir uns, es zu verlassen! Ich mag es niemals wieder sehen.“

Ich wanderte eine Strecke in die lautlose Morgenstille hinein. Kein Vogel ließ sich hören, kein Geräusch gab es ringsumher. Das war der geeignete Ort zum Insichschauen; aber je tiefer dieser Blick nach innen dringt, desto mehr sieht man ein, dass der Mensch nichts ist als ein zerbrechliches Gefäß, mit Schwächen, Fehlern und Hochmut gefüllt!

(Omar, Halef, Kara, Erzähler)

Andreas Pronegg

Wien, am 27.10.2019