Eine Balkan-Konstruktion
Der Orientzyklus von Karl May wurde von 1881-1888 geschrieben. 1892 erschien die sechsbändige Ausgabe von „Kara Ben Nemsi im Reiche des Großherrn“. Der Schut ist der sechste und letzte Teil dieses Zyklus. Der Zeitpunkt der Karl-May-Handlung, der nicht genau datierbar ist, wird aufgrund der politischen Landkarte, die der Autor skizziert, auf die Jahre 1872-1876 geschätzt. Die Reiseroute der letzten drei Bände (In den Schluchten des Balkan; Durch das Land der Skipetaren; Der Schut) führt von Edirne (Westgrenze der heutigen Türkei) durch den Süden Bulgariens, weiters durch Nordmazedonien, Kosovo und Albanien bis an die Adriaküste ins heutige Montenegro bei Bar. 1964 wurden Teile der letzten drei Bände unter dem Titel „Der Schut“ u.a. in Strellc, Peja und Decan verfilmt.
Die Redaktion des „Deutschen Hausschatz“, bei der die Erzählungen in den 1880er Jahren wöchentlich erschienen sind, teilte eingangs mit, dass „der Verfasser der Reise-Abenteuer alle Länder, welche der Schauplatz seiner Erzählungen sind, selbst bereist hat. Denn er pflegt nicht, mit dem rothen Bädeker in der Hand, im Eisenbahncoupé zu reisen, sondern er sucht die noch wenig ausgetretenen Pfade auf.“ Karl Mays Roman-Erzähler berichtet über seine Reisen in den Balkan: „Wie viele Bücher hatte ich über fremde Länder und ihre Völker gelesen und wie viele Vorurteile dabei in mich aufgenommen! Ich hatte manches Land, manches Volk, manchen Stamm ganz anders und besser gefunden, als sie mir geschildert worden waren.“
In Wahrheit hat der Autor kein einziges dieser Länder je bereist. Die vor und während der Niederschrift erfolgten politischen Explosionen auf dem Balkan (Bosnischer Aufstand 1876, Bulgarischer Aufstand 1876, Serbisch-Türkischer Krieg 1876-78, Russisch-Türkischer Krieg 1877-78, Berliner Kongress 1878, die Gründung der Liga von Prizren 1878, der Albanische Aufstand 1878-81, Vereinigung von Bulgarien und Ostrumelien 1885, Serbisch-Bulgarischer Krieg 1885) hatten, auch aufgrund der Bismarckschen Hegemonialpolitik am Balkan, die Aufmerksamkeit der damaligen deutschen Karl-May-LeserInnen entfacht.
Nicht erst seit den Jugoslawienkriegen (1991-2001) ist diese Region durch Begierden geostrategischer Großmächte einer Zerreißprobe ausgesetzt. Der Streit um die „europäische Grenzregion zwischen Orient und Okzident“, die neben der Europäischen Union auch andere Mächte zu beherrschen versuchen, wird zur Zeit vorwiegend mit ökonomischen Mitteln ausgefochten.
Andreas Pronegg, Wien, am 26.09.2019
Das folgende Textmaterial zu Karl Mays „Schut“ stammt von:
Michael Schmidt-Neke: Von Arnauten und Skipetaren. Albanien und die Albaner bei Karl May. Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft, 1994.
Es wurde von mir zusammengefasst und neu gegliedert, um Festival-MitarbeiterInnen eine erste historische, politische und literaturgeschichtliche Orientierung zu vermitteln.
A. P., Wien am 26.9.2019
I. Arnauten und Skipetaren
Karl May überträgt im Balkan-Roman „Schut“ Vorurteile seines damaligen mitteleuropäischen Wissenschaftsstandes, versucht aber andererseits, entsprechend seinem christlich-humanistischen Menschenbild, sozialkritische und kulturpolitische Aspekte zu berücksichtigen.
An vielen Stellen vergleicht der Erzähler seine Eindrücke mit den Verhältnissen in der Heimat. Der exotische Schauplatz dient einerseits als Projektion zivilisationsmüder Wunschvorstellungen, andererseits als negativer Gegenentwurf zum eigenen, als höher stehend empfundenen Kulturkreis.
Kara Ben Nemsi kann seine Omnipotenz nur an exotischen Schauplätzen unter Beweis stellen und seinen Freiheitsdrang ausleben. Andererseits fühlt er sich durchaus heimatlichen Wertvorstellungen verpflichtet. Er ist zwar von christlichem Sendungsbewusstsein erfüllt, übt aber zugleich Kritik am inhumanen Imperialismus.
Mit der Ablehnung einer imperialistischen, deutschen Großmachtpolitik gehörte May im wilhelminischen Deutschland um die Jahrhundertwende zu einer Minderheit (siehe seine letzte Rede „Empor ins Reich der Edelmenschen“ von 1912, zehn Tage vor seinem Tod in Wien, bei der u.a. die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner und der junge Karl-May-Fan Adolf Hitler Zuhörer waren).
Mays literarische Werke sagen mehr über westeuropäische Befindlichkeiten und politische Konstellationen aus, als über die beschriebenen Regionen des Balkan.
Seine Völkerskizzen basieren neben seiner Quellenlektüre auf verschiedenen theoretischen Vorstellungen. Bei den Skipetaren (den Albanern) versucht der Autor in Anlehnung an die so genannte Klimatheorie, einen Zusammenhang zwischen Nationalcharakter, Landschaft und sozialpolitischen Verhältnissen herzustellen. Auch ein Verweis auf die archaische Tradition der Blutrache, die „alten Gesetze Skanderbegs“ fehlt nicht. Die Skipetaren erscheinen als kampfeslustige, rachsüchtige und häufig hinterhältige Gesellen, so zum Beispiel die beiden Aladschy Sandar und Bybar. Das Bild, das May von diesem Balkanvolk zeichnet, bleibt oftmals negativ, zumindest aber von Misstrauen geprägt.
Positiver beschreibt May den vom Schut gefangenen Bajraktar (Stammesführer) Stojko Vites aus Slokutschie und seine Skipetaren. Auch der Miridit Hajdar, Angehöriger eines überwiegend katholischen albanischen Volksstammes, wandelt sich zu einer positiven Figur.
Das albanische Volk als Kollektiv ist nach Mays Theorie, die er erstmals 1875/76 in den „Geographischen Predigten“ formuliert und von anderen deutschen Wissenschaftlern übernommen hat, „von der Landschaft geprägt.“ Eine menschenfeindliche Landschaft kann nichts anderes als menschenfeindliche, introvertierte und xenophobe Charaktere hervorbringen, die höheren Autoritäten ablehnend gegenüber stehen:
„Die Gebirge der Balkanhalbinsel sind meist von gewaltigen, tief zerklüfteten Felsmassen gebildet. Bei diesem abwehrenden Aufbau des Hochlandes ist es sehr erklärlich, dass die Bewohner desselben den fremden Eroberern gegenüber stets mehr oder weniger ihre Unabhängigkeit bewahrten. Diese finsteren, drohenden, kalten Schluchten und Gründe sind natürlich von großem Einfluss auf den Charakter und die physische Beschaffenheit der Bevölkerung gewesen. Der Skipetar ist gegen Fremde ebenso ernst, abgeschlossen und feindselig wie sein Land. Seine sehnige, kraftvoll elastische Gestalt, sein ernstes Gesicht mit dem granitnen, unerbittlichen Zügen, sein kalt blickendes und abweisend drohendes Auge stimmt ganz mit der Beschaffenheit der von ihm bewohnten Berge überein. Sein Inneres zeigt wenig helle, freundliche Punkte; es ist von tiefen Spalten und Rissen durchzogen, in deren Gründen die Wasser des Hasses, der Rache und des unversöhnlichen Zornes schäumen. Selbst untereinander sind diese Leute argwöhnisch und misstrauisch. Die Stämme schließen sich voneinander ab, die einzelnen Familien und Personen ebenso. Doch dem Eindringling gegenüber scharen sie sich zusammen wie ihre aneinander stehenden Felsen, die dem Reisenden nur an seltenen Stellen einen schmalen, mühsamen Durchgang gewähren.“
Über die Männer, die in die Berge gegangen sind, um fortan als Räuber zu leben, lässt er den Rosenzüchter Jafis sagen:
„Sie sind arm. Sie haben nur ihre Waffen; sie müssen vom Raub leben.“
Das „Räuberwesen“ resultiert für ihn auch unmittelbar aus der sozialpolitischen Lage am Balkan mit seinem nationalen Befreiungskampf. Die Bande des Schut wirkt dabei wie eine verzerrte Darstellung der Liga-Gründer von Prizren:
„Auf der Balkanhalbinsel hat das Räuber-Unwesen niemals gesteuert werden können. Gerade in letzter Zeit berichten die Zeitungen fast ununterbrochen von Aufständen, Überfällen, Mordbrennereien und anderen Ereignissen, die auf die Haltlosigkeit der Zustände in den türkischen Balkanländern zurückzuführen waren. Nun machte da oben in den Bergen des Schar Dagh zwischen Prisren (Prizren) und Kalkandelen (Tetovo) ein Skipetar von sich Reden, der mit den Unzufriedenen, die er um sich versammelt hatte, bis hinab in die Täler streifte.
Seinen eigentlichen Namen wusste niemand. El Aßfar, Ssary, Schut, so wurde er genannt, je nach der Sprache, der man sich bediente. Diese drei Wörter bedeuten „der Gelbe“. Und es wollte mir scheinen, als sei dieser Schut das Oberhaupt aller jener Räuberbanden von der montenegrinischen Küste bis zum Bosporus.“
Der Zerfall der osmanischen Autorität lässt überall Mörder- und Räuberbanden entstehen, die ihre Tätigkeiten politisch bemänteln:
„Jetzt gärt es überall. Man spricht nicht mehr von Räubern, sondern von Patrioten. Das Handwerk hat den politischen Turban aufgesetzt. Wer nach dem Besitz anderer trachtet, der gibt an, sein Volk frei und unabhängig machen zu wollen.
Es mag wohl einige wenige geben, welche, von der Ungerechtigkeit, von dem Hass und der Verfolgung gezwungen, sich in die Berge flüchten, aber ihre Zahl ist verschwindend klein gegen die Menge derjenigen, die nur aus roher Brutalität die heiligen Bande zerreißen, welche das Gesetz, das göttliche und das menschliche, um alle gezogen hat.“
May denunziert die Nationalbewegungen der Balkanvölker als getarnte Verbrecherbanden. Er argumentiert immer vom Standpunkt eines antirevolutionären Legitimismus aus. Mit der „Liga von Prizren“ hatte die albanische Nationalbewegung „Rilindja“ („Wiedergeburt“) politischen Charakter angenommen. Dieser Zusammenschluss richtete sich zunächst gegen die auf dem Berliner Kongress beschlossene Abtretung albanischer Gebiete an Serbien und Montenegro, ging also mit den Interessen der Regierung in Istanbul konform. Als sich aber das Osmanische Reich gezwungen sah, die Berliner Beschlüsse umzusetzen, richtete sich die Liga gegen sie und etablierte eine autonome Regierung. Der albanische Aufstand wurde nach drei Jahren 1881 niedergeschlagen.
May steht auf der Seite der nationalen deutschen Einigung von 1871 und dem Bestreben der Türken, das Osmanische Reich zusammen zu halten. Sein politischer Horizont erlaubt ihm keine Unterscheidung zwischen Nationalstaat und Vielvölkerstaat:
„Der Islam verhindert den Kulturfortschritt nicht; aber die Macht, die er dem einen über den anderen erteilt, ist unrecht. Der Türke hat dieses Land erobert. Ist das ein Grund, ihn daraus zu vertreiben? Haben nicht der Engländer, der Deutsche, der Russe, der Franzose und alle anderen ihre Reiche ebenso erobert? War nicht vor kurzem Prussia (Preußen) so klein wie eine Streusandbüchse, und nun ist es so groß geworden, dass es Millionen von Menschen fasst?
Wodurch ist es so groß geworden? Durch Schießpulver, durch das Bajonett und durch das Schwert, wohl auch durch die Feder des Diplomaten. Sie alle haben früher nicht die Länder gehabt, die sie jetzt besitzen. Geht nicht durch ganz Asia ein ungeheurer Diebstahl, ausgeführt von dem Inglis (Engländer) und dem Moskof (Russen)? Findest du nicht ein immer währendes Erdrücken und Abschlachten der Stämme, die zwischen diese Riesen geraten? Das tun die Christen; der Türke ist froh, wenn man ihn in Ruhe lässt.“
Die Schuld an der politischen und wirtschaftlichen Rückständigkeit der türkischen Balkanprovinzen gibt er vor allem der Besatzungsmacht mit ihren Steuerforderungen, korrupten Beamten und einer äußerst fragwürdigen Gerichtsbarkeit. Bei der Schilderung der unfähigen und brutalen Staatsgewalt hat May vielleicht auch seine eigenen negativen Erfahrungen mit der deutschen Justiz verarbeitet (er war jahrelang in deutschen Gefängnissen eingesperrt):
„Nimm einmal die Albaner an und all die Völkerschaften und einzelnen Stämme, von denen jede dieser Sippe ihre eigene Gesetze, Gebräuche und Rechte hat. Das ist das richtige Feld für einen Mann wie der Schut. Er lacht des Großherrn und seiner Beamten. Er verhöhnt die Richter, die Behörden, die Polizei und die Soldaten. Keiner von ihnen kann ihm das Geringste anhaben. Hier lebt jedes Dorf in Gegnerschaft mit seinem Nachbardorf. Jeder Ort hat mit dem anderen irgendeinen Diebstahl, Raub oder gar eine Blutrache auszugleichen. Das ist ein ewiger Krieg, und da behält natürlich der gewalttätigste und größte Übeltäter die Oberhand.“
Für ihn haben die Arnauten (Albaner) auch deshalb maßgeblichen Anteil am Niedergang des osmanischen Reiches, den er für ein Unglück hält, weil sie von sich aus die Bevölkerung terrorisieren und sich von korrupten Beamten zur Ausplünderung des Volkes benutzen lassen. Selbst vor der Zusammenarbeit mit Verbrechern, die sie eigentlich bekämpfen sollten, schrecken sie nicht zurück.
May sieht Heilungschance für den „kranken Mann am Bosporus“, sofern die christlichen Nachbarn und die Großmächte nur aufhören wollten, ihn bei lebendigem Leibe zu zerstückeln. Das osmanische Reich sei regenerationsfähig. Nur Deutschland als Vertreter der christlichen Humanität könne uneigennützige Hilfe bringen und vielleicht sogar auf friedlichem Wege die Christianisierung der Türken erreichen.
Kaum ein Romantitel Karl Mays ist derart intensiv rezipiert worden wie „Durch das Land der Skipetaren“. Die Albaner haben im 17. Jahrhundert den Volksnamen „arber“ durch „shqiptar“ ersetzt, was wahrscheinlich jemanden bezeichnet, „der verständlich spricht“. Etymologien, die das Wort mit „shqipe“ (Adler) verbinden, gehören in das Reich der nationalen Romantik. Die Selbstbezeichnung „Schkipetaren“ hat in einem Buchtitel erstmals Xylander 1835 verwendet. Eine weitere gängige deutschsprachige Bezeichnung für Albaner lautet „Arnauten“, aus türkisch „arnaut“, durch Lautverschiebung und Metathese aus griechisch „arvanites“.
Hermann Neubacher, der Sonderbeauftragte des May-Lesers Hitler für den besetzten Balkan, verweist in seinen Memoiren auf die durch May begründete Albanerfreundlichkeit der Deutschen allgemein und von Besatzungsoffizieren im besonderen.
Elisabeth Joost ließ unter ihrem Pseudonym Jonny Behm in ihrem Roman „Balkan, Bakschisch und Basare – Zwei Reporterinnen auf Karl Mays Spuren“ diese in den 1930er Jahren von Kotor bis Edirne reisen.
Zahlreiche Albaner wurden, aufgrund ihres Übertritts zum Islam, fern ihrer Heimat in Nordafrika und im Nahen Osten als Soldaten, Polizisten und im Janitscharenkorps eingesetzt. May entging in seinem Werk, dass die Albaner auf allen Ebenen des osmanischen Reiches präsent waren: Als Großvezire, Minister, Heerführer und Provinzgouverneure. Für May sind die Arnauten deshalb kollektiv entwurzelt, weil sie die Bindung an ihre Heimat abgebrochen haben. Das gilt natürlich nicht für Kara Ben Nemsi (türk. Kara: „schwarz“, phonet. Anlehnung an „Karl“, Ben Nemsi: arab. klingende Bezeichnung mit der Bedeutung „Sohn der Deutschen“). Trotz jahrelanger Reisen hat er seine deutsche Heimat nicht verloren. Zahlreiche Protagonisten in Mays Werk haben sich durch eine Revolution an ihrem Staat versündigt und büßen dies nun durch ein Exil in der Fremde, wo sie allerdings ungestraft weiterhin ihre Verbrechen ausüben können. Dies gilt auch für ganze Völker. Denn für die Albaner wie für die Juden gilt laut May, dass sie nur in ihrem heimatlichen Milieu ihre positiven Anlagen entwickeln können. Für die Deutschen gilt dies natürlich nicht: Die im Ausland lebenden Deutschen bleiben stets heimatlich:
„Der Arnaute achtet das Leben eines Menschen gleich nichts. Er schießt wegen eines Schluck Wassers einen andern ruhig nieder und beugt dann dafür mit derselben Ruhe sein Haupt unter das Schwert des Henkers. Die Arnauten sind „wilde Gesellen, unendlich roh, die denkbar wildeste Soldateska.“
Die türkischen Behörden sind im Bergland machtlos. Hier gibt es völlig unabhängige Stämme, die wie folgt gegliedert sind:
„An deren Spitze steht ein Barjaktar, welcher mit Hilfe einiger Dschobars und Dovrans den Stamm regiert. Alle an einer Privatperson begangenen Verbrechen werden nicht von dem Staat, sondern von dem Beschädigten und dessen Familienmitgliedern bestraft.“
„Barjaktar“ ist die serbische Entlehnung von türk. „bayraktar“, das im Albanischen „bajraktar“ lautet (eigtl. „Bannerträger“, hier „Stammesführer“). Der Dschobar (alb. „gjobar“, „gjobtar“) ist der Bußgeldeintreiber des Stammes. Der Dovran (alb. „dorezane“, „Bürge“) ist nach dem Kanun, dem Gewohnheitsrecht der albanischen Bergstämme, der Garant und Vermittler in Zivilstreitigkeiten und Blutrachefällen. Darüber hinaus war er im Bereich des Xhibal tätig, eines Regelwerks, das staatliches osmanisches Recht mit dem Gewohnheitsrecht der Stämme kombinierte.
Im Unterschied zu den osmanischen Behörden sei auf die Stammesführer Verlass: sie würden von anderen geraubtes Eigentum nicht unterschlagen, sondern seinem Besitzer zurückerstatten:
„Der Skipetar rächt nur das, was ihm selbst und den Gliedern seiner Familie oder seines Stammes geschehen ist.“
II. Die „Albanischen“ ProtagonistInnen in Mays Orient-Romanen
Der Schut: An der Spitze der Verbrecherbande, die sich über den ganzen Balkan ausbreitet, wird anfangs ein Skipetar vermutet. Es ist „der Gelbe“, was bei May in arabisch („El Aßfar“), türkisch („Sayrik“), serbisch („Schut“), aber nicht auf albanisch (z.b. „Verdhi“) angegeben wird, wobei das türkische „sar“ damals in Teilen Albaniens verwendet wurde. Sein engerer Wirkungskreis entspricht ziemlich genau den Grenzen Nordmazedoniens.
Der Reiseweg ist anhand der Landkarte nicht immer nachzuvollziehen und in etlichen Fällen nicht verifizierbar, besonders beim Höhepunkt der Erzählung, der Verfolgung des Schut durch eine erratische, von Schluchten durchzogene Landschaft.
Der Schut trägt die Tracht der reichen „mohammedanischen Skipetaren:
kurze, glänzende Stiefel, schneeweiße Fustanella, rote, mit Gold verbrämte Jacke, auf deren Brustteilen silberne Patronenbehälter befestigt waren, einen blauen Gürtel, aus welchem die Griffe zweier Pistolen und eines krumm gebogenen Handschars hervorsahen, und auf dem Kopf einen roten Fez mit goldener Quaste. (..) Sein hageres Gesicht (…) hatte eine intensive gelbe Farbe (…); ein dichter, schwarzer Bart ging ihm in zwei Spitzen fast bis auf die Brust herab, und tiefschwarz war auch die Farbe seiner Augen…“
Der einzig wahre, ebenbürtige Gegenspieler von Kara Ben Nemsi, alias Kara I, ist also der albanische Räuberhauptmann Schut, alias Kara Nirwan, alias Kara II, der sich erst später als entwurzelter Perser zu erkennen gibt. Er personifiziert die negative, kriminelle Seite von Karl May und stammt direkt aus Dantes tiefster Hölle. Satan erscheint dort als Gigant mit drei Gesichtern: rot, weißgelb, schwarz (Dante, Inferno, Canto 34, Verse 37-44). Sein Name deutet das Nirwana an, aus dem er plötzlich auftaucht, und in das er nach dem Kampf (gegen Kara I) wieder entschwindet. Die Tatsache, dass der Schut ein Perser ist, bedeutet nicht etwa eine moralische Entlastung der Albaner, sondern viel eher einen Mangel dieses Volkes an Führungskompetenz. Dies korrespondiert mit der abhängigen, untergeordneten Rolle der Arnauten im Osmanischen Reich. Wenn man von Mays literarischer Erfindung absieht, ist es real kaum vorstellbar, dass in einer Gentilgesellschaft ein Ausländer eine derart zentrale Machtposition erringen kann.
Die Figur des Schut ist die erzählerische Vorstufe zu Aemir-i-Sillan / Ahriman Mirza aus „dem Reiche des silbernen Löwen“. Bei dieser späten, „persischen“ Erzählung vollzieht May den Übergang zum Symbolismus.
„Die schlimmsten Skipetaren, die es gibt“, sind die beiden Brüder Sandar und Bybar, die nach ihren Pferden „Aladschy“ (türk. „Schecken“) genannt werden. Entgegen den religiösen Vorschriften sagen sie dem Alkohol zu, spotten als Muslime über den Islam und verachten selbst die Albaner: „Die taugen nichts.“
Der Miridit (eine katholische Stammesgruppe der Albaner) Tschurak aus Oroschi ist der Führer der Bande des Schut im Ort Sbiganzy (oder Shiganzy) und ein imposanter, reich gekleideter, finster dreinblickender Mann, „ganz der selbstbewusste Skipetar“. Die Miriditen sind „freie Arnauten“, die sich „nach den alten Gesetzen Lek Dukadschinits“ (interessanterweise hier alban. Genetivendung) richten. Da er bei einem Gefecht mit Kara I erschossen wird, fällt dieser Tod unter das Gesetz der Blutrache. In einem Kampf mit dem Bruder des Miriditen schenkt Kara diesem das Leben, worauf der Bruder ohne Namen ihm aus Achtung seine Wurfaxt schenkt und damit zu verstehen gibt, dass die Blutrache damit ausgesetzt ist, und er sich an keinen Feindseligkeiten gegen ihn mehr beteiligen wird (wobei Kara weder ein Verwandter noch ein Albaner ist). Gemäß der Gesetze des Kanun ist diese Haltung nicht nachvollziehbar. Ein freier Mann gibt niemals seine Waffe ab. Es wäre eine Selbstdemütigung.
Bei den katholischen Miriditen wie beim orthodoxen Montenegriner Osko, den May als Mohammedaner schildert, werden seine unklaren Vorstellungen von den religiösen Zusammenhängen und vom albanischen Gewohnheitsrecht im Kanun des Lek Dukagjini sichtbar, das nicht das „Gesetz Skenderbegs“ ist, wie es in späteren Bearbeitungen manchmal geschrieben steht.
Außerdem ist die Wurfaxt (Czakan/Tschakan) keineswegs eine bevorzugte Waffe der Albaner gewesen. Für diese Wortschöpfung gibt es im Albanischen keinen Beleg. Im Türkischen bedeutet „cekan“ lediglich „Hammer“.
Mays Polemiken gegen das albanische Gewohnheitsrecht sind nicht einmal logisch. Er beschreibt den Kanun als bloßes Recht des Stärkeren, was eine unzulässige Verkürzung ist. Tatsächlich ersetzt das Gewohnheitsrecht mit all seinen Stärken und Schwächen im Bereich der nordalbanischen Stämme das dort überhaupt nicht durchsetzbare türkische Recht.
Die Köhlerbande um Scharka Visosch wird als menschlicher Tiefpunkt gezeichnet. Scharka bedeutet im serb. Kreuzotter. Seine Schwester heißt Guzka (serb. guska), also „Gans“. Deren Mann Junak trägt ebenfalls einen serbischen Namen (serb. für „Held“). Alle drei werden bei May als Albaner bezeichnet.
Der albanische Dolmetscher des Engländers Lindsays erhält in späteren Fassungen den Namen Fan Hoti. Hoti ist ein nordalbanischer Stamm. Fan ist allerdings eher im Süden als Kurzname für Theofan oder Stefan üblich. Die gegische (nordalbanische) Form von Stefan wäre „Shtjefen“, die Kurzform „Tef“.
Hoti ist das positive Gegenstück zu dem verbrecherischen Griechen Alexander Kolettis. Fan Hoti, der mit seiner Familie in Antivari (Bar) lebt, ist gegenüber seinem Arbeitgeber loyal.
In der Höhle des Köhlers finden sich Waffen, Geld und Pferde des vom Schut gefangen gehaltenen Stammesführers Stojko Wites. Dessen Sohn Ljubinko und sein Begleiter wurden von Scharka ermordet. Auf den Geldsäcken ist sein Name in kyrillischem Alphabet aufgestickt. Wites (serb. „vitez“) bedeutet „Ritter“. Sein Neffe Ranko ist ein impulsiver, stolzer Mann, der an „das Bild eines echten Skipetaren mit dem Blick des Adlers“ erinnert.
Hier schlägt wieder das Missverständnis von Karl May durch, wonach das Albanische zu den slawischen Sprachen gehöre oder gar mit dem Serbischen identisch sei. Die Verwendung des kyrillischen Alphabets kann im (weitestgehend analphabetischen) Nordalbanien nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden, da die Albaner sich erst 1908 auf die lateinische Schrift geeinigt haben. Allerdings verwendeten Katholiken meist das lateinische, Muslime in der Regel das osmanisch-arabische Alphabet. Die slawisch-orthodox klingenden Namen in seiner Familie (Stojko, Ranko, Ljubinko) sind im nördlichen Bergland, wo fast nur Muslime und Katholiken lebten, völlig unplausibel. Echte Familiennamen gab es zu dieser Zeit kaum. Sein Herkunftsort Slokuczie liegt in der Kosovebene (die damals noch zur Türkei, also zu Albanien im obengenannten Sinne gehörte), nicht aber in der Malesia, dem nordalbanischen Bergland.
Der Wirt in Rugova heißt Kolami. Ein Gasthaus in der albanischen Malesia trägt den serbischen Namen Newera-Khan, dessen Wirt heißt pseudoserbisch Dragojlo.
May verwendete für seine Erzählungen weder die albanischen Vorlagen von Xylander, noch diejenigen von Hahn, sondern zahlreiche griffbereite Textsorten, non-fiktionale Reiseliteratur, orientalische Fachpublikationen, zeitgenössische Presseberichte, Nachschlagwerke, Landkarten und Sprachführer.
Als freier Schriftsteller behauptet er einfach, man gebrauche auch in Serbien das russische Alphabet (tatsächlich ist es eine andere Variante des kyrillischen), und lässt im Schut-Band die beiden Buchstaben St. und W. als Stickerei auftauchen. Doch auch die kyrillische Schrift braucht zwei Buchstaben für St.
Der Balkan und Albanien haben Mays Interesse nicht dauerhaft geweckt. Auch deshalb ist seine Auseinandersetzung mit den Albanern besonders stark von Klischees bestimmt, die er übernahm und verstärkt weitergab.
Positive Stereotypen der Skipetaren, die sich durch Mays Werk ziehen:
Körperliche Stärke. Tapferkeit. Loyalität untereinander. Gute Kleidung und Bewaffnung. Dankbarkeit.
Negative Stereotypen:
Gewalttätigkeit. Grausamkeit. Missachtung der Gesetze. Missachtung religiöser Vorschriften. Bestechlichkeit. Alkoholkonsum. Abergläubisch.
In der sozialen und moralischen Hierarchie in Mays albanischer Gesellschaft steht Stojko Vites an oberster Stelle. Ihm folgt der treue Dolmetscher Fan Hoti. Nach diesem rangieren der Miridit Tschurak und sein Bruder ohne Namen. Darauf folgen die entwurzelten Aladschy Sandar und Bybar. Und den Tiefpunkt markieren die Massenmörder der Köhlerfamilie Scharka Visosch.